Hongkongs heile Welt bekommt Risse
Ein globales Finanzzentrum mit westlicher Prägung und relativ viel Freiheit: Hongkong galt bei Bewohnern wie Besuchern lange als besonders lebenswerte Stadt. Doch nun mehren sich die Probleme - und der Hass auf die Chinesen vom Festland.
Man könnte ein Porträt von Hongkong mit der Sprache der Stadt beginnen lassen, dem Kantonesischen mit seinem Stakkato und seinen ungewollt komischen Elementen. Oder mit der Ballermann-Partymeile Lan Kwai Fong. Oder mit den viel zu vollen, viel zu lauten und viel zu stickigen Straßenschluchten.
Doch dieses Porträt soll - jenseits der Klischees - mit Hongkong, dem Wanderparadies, beginnen. Denn erst auf den Bergen und Inseln, an den Stränden und im dichten Küstengebüsch ist der Kontext der Stadt zu begreifen, ihre Einbettung in die Landschaft.
Damit erst gar kein Missverständnis aufkommt: Wandern in Hongkong ist anstrengend. Das liegt am schwülwarmen Klima. Vor allem aber am Terrain. Steile Berghänge, wohin man schaut. Und die Wege führen nicht etwa in Serpentinen oder Schleifen. Sie steuern direkt auf den Gipfel zu, wenn es sein muss auch als Betontreppe mit 1000 Stufen. Ein Kampf mit dem Berg. Doch wer ihn gewinnt, wird belohnt.
"Wer auf Hongkongs höchsten Berg, den Tai Mo Shan, wandert, also auf knapp 1000 Meter, sieht so ziemlich ganz Hongkong. Hong Kong Island mit dem Finanz-Distrikt. Die großen Brücken, die rüber zum Flughafen führen. Das ganze dörfliche Land, bis hinauf zur Grenze mit Festlandchina. Und die Inseln draußen im Meer. Von den Bergen aus hat man beeindruckende Blicke."
Die Gründung Hongkongs war ein Verbrechen
Der Brite Paul Christensen leitet die Wandergruppe "Hong Kong Hikers" mit 700 Mitgliedern. Mehrmals die Woche ist er in den geschützten "Country Parks" unterwegs. Hongkong besitzt ein ganzes Netz von Wanderwegen, hunderte Kilometer lang. Es durchzieht das gesamte Territorium.
Hongkongs Landfläche ist ungefähr so groß wie die Insel Rügen. Die Wohn- und Bürotürme bedecken nur die wenigen flachen Stellen. Die Berge und die vielen Inseln sind meistens unbebaut und naturbelassen. 20 Minuten vom Zentrum entfernt zwitschern nur noch die Vögel.
"Ich lebe gern in großen Städten, und ich liebe das Wandern. Hongkong ist die einzige Stadt der Welt, die ich kenne, in der man beides hat, wo man locker in einer Tagestour wandern gehen kann. Es ist alles um die Ecke. Der öffentliche Nahverkehr ist hervorragend. Man kommt überall hin und auch wieder weg. 40 Prozent des Hongkonger Territoriums bestehen aus Country Parks. Weitere 15 bis 20 Prozent sind ländliche Gebiete. Es gibt also eine riesige Menge an Wandermöglichkeiten."
Die Briten nahmen den Chinesen Hongkong einst mit Gewalt ab. Zunächst nur die kleine Insel Hong Kong Island, einen "unwirtlichen Felsen" im Meer, wie Queen Victoria damals schimpfte. Dort gründeten sie eine Stadt und regierten diese mit kolonialer Arroganz. Die Gründung Hongkongs war ein Verbrechen.
Andererseits: ohne die Briten gäbe es gar kein Hongkong. Und die Eindringlinge haben immerhin viel Positives hinterlassen: Presse- und Meinungsfreiheit, einen funktionierenden Rechtsstaat - und 24 Country Parks. Dort darf nicht gebaut werden. Selbst auf Hong Kong Island mit seiner Postkarten-Skyline gibt es große geschützte Flächen gleich hinter den Wolkenkratzern.
Natürlich ist auch in den Hongkonger Wandergebieten nicht alles perfekt. Die Luftverschmutzung raubt oft die Sicht, macht den Lungen zu schaffen. Außerdem richtet sich die Landgier der Immobilienentwickler immer stärker auf die Country Parks. Die bebauten Flächen der Stadt platzen aus allen Nähten. Schon wird überlegt, manche Parks zu verkleinern und Bauland abzuzweigen. Bei den Wanderern ist das äußerst unpopulär. Eine Dame auf dem Dragon’s Back, einem berühmten Gratwanderweg mit weitem Blick aufs Meer:
"Wir sind dagegen, dass in den Parks gebaut wird. Ich mag die Natur und das Wandern. Ich will das schützen. In Hongkong geht es immer um den Kommerz und Immobilien. Es geht immer ums Geldmachen. Ich lehne das ab. Und die neuen Wohnungen kämen sowieso nicht den normalen Hongkongern zugute. Die wären für die Reichen und die Leute vom Festland."
Das Festland ist Hongkongs Segen und Fluch
Und da ist es auch schon gefallen, das M-Wort: The Mainland People, die Leute vom chinesischen Festland. Selbst auf Hongkongs Wanderwegen in der Natur ist ihm nicht zu entkommen. Die Auseinandersetzung mit dem Festland – sie durchdringt seit einigen Jahren den letzten Winkel dieser Stadt und einen Großteil der Gespräche ihrer Bewohner. Das hat die Atmosphäre vergiftet.
Das Festland ist Hongkongs Segen und Fluch. Auf dem Rücken des chinesischen Wirtschaftswunders hat Hongkong seit der Rückgabe durch die Briten 1997 einen gewaltigen Boom erlebt. Die Stadt ist das Eintrittstor zum chinesischen Markt und umgekehrt Chinas Tor zur Welt, eine Mittlerin. Ein globales Finanz- und Logistikzentrum, chinesisch in der Substanz, doch westlich geprägt. An sich eine komfortable Position.
Doch Hongkong droht, dabei zerrieben zu werden. Die Stadt wurde im vergangenen Jahr von 47 Millionen Festländern geradezu heimgesucht. Die meisten Besucher kommen zum Einkaufen, viele aber auch, um zu arbeiten, um Wohnungen zu erwerben, um zu studieren oder Babies zu gebären, die dann das Hongkonger Bleiberecht erhalten. Das verändert das Leben. Wo einmal Drogerien oder Imbisse waren, gibt’s jetzt goldene Uhren für reiche Festländer zu kaufen. Überall ist Mandarin zu hören, die Hochsprache des Festlands. Die Immobilienpreise erreichen absurde Höhen. Kliniken sind dem Ansturm kaum gewachsen. Die Ressourcen reichen nicht. Die Hongkonger fühlen sich buchstäblich überrannt.
"Mal ganz deutlich gesagt, für mich sind das Heuschrecken, sagt diese Frau auf der Straße."
Heuschrecken - so ist die Stimmung in der Stadt. Fremdenfeindlichkeit hat sich breit gemacht. Aus vielen Hongkongern, die immer stolz auf ihr Chinesischsein waren, sind China-Hasser geworden. Die Besucher vom Festland fühlen sich getroffen. Eine der shoppenden Touristinnen sagt:
"Ich ärgere mich über diese Heuschrecken-Diskussion. Als Chinesen sollten wir doch nicht so übereinander reden. Außerdem hängt Hongkong doch wirtschaftlich vom Festland ab."
Da trifft sie den wunden Punkt. Abhängig sein – und doch auf Abstand bleiben wollen. Das ist Hongkongs Dilemma. Die sieben Millionen Hongkonger fühlen sich erdrückt vom chinesischen Riesen hinter der mit Stacheldraht befestigten Stadtgrenze – zumal dieser Riese auch politisch immer mehr Einfluss nimmt.
Hongkongs Zentrum besteht aus zwei Hälften. Dem engen Küstenstreifen auf Hong Kong Island und - auf der anderen Seite des Victoria Harbour mit seinem grünen Wasser gelegen - Kowloon.
Was wichtig ist fürs Business, läuft reibungslos
Zwischen beiden Stadthälften pendelt die alte Star Ferry aus Kolonialzeiten hin und her. Heute gibt es natürlich auch U-Bahn- und Autotunnels. Auf beiden Seiten ragen Hochhäuser empor. Hongkong ist eine vertikale Stadt und eine kapitalistische. Bankentürme prägen die Skyline. Die Millionärsdichte ist hoch, die Immobilienpreise sowieso. Die Steuern aber sind niedrig, ebenso der gesetzliche Mindestlohn von umgerechnet 3 Euro pro Stunde. David Zweig ist Politikwissenschaftler in Hongkong. Er bringt den Geist der Stadt so auf den Punkt:
"Hongkong ist ein großartiger Ort, um reich zu sein. Aber nicht so großartig, wenn man arm ist. Die Wohlhabenden machen ihr Geld vor allem in Form von Aktien-Dividenden, nicht durch Gehälter. Es gibt keine Kapitalertragssteuer, so dass die kaum Abgaben leisten müssen. So machen das die Reichen hier."
Kultur und Selbstverwirklichung spielen in Hongkong nur eine kleine Rolle, stattdessen regieren Wettbewerb und Kommerz. Der Weg in die U-Bahn führt fast immer durch irgendeine Shoppingzeile.
Das Leben ist angenehm in dieser Stadt. Fragt man die Bewohner, Westler wie Chinesen, was sie an Hongkong schätzen, sagen sie wie aus einem Mund: die Stadt ist so "convenient", so bequem, so praktisch. Die U-Bahn saust blitzsauber überallhin. Die Ausgänge führen direkt in die Bürotürme. Der Airport-Express schaufelt die vielen Geschäftsreisenden stressfrei zum Flughafen, einem globalen Drehkreuz. Minisupermärkte haben rund um die Uhr geöffnet. Und wer von Central, dem Finanzviertel, den Berg hoch in die teuren Wohnviertel der Midlevels will, fährt einfach auf der längsten Rolltreppe der Welt nach oben.
Verkehr, Logistik, Konsum: alles, was wichtig ist fürs Business, läuft reibungslos. Hongkong ist wie Legoland: Eine kleine, überschaubare, heile Welt, in der alles perfekt ineinander greift. Seit einigen Jahren aber bekommt diese Welt Risse. Man muss nicht gleich bis in die versteckten Elendsquartiere von Kowloon blicken, um diese zu entdecken. Auch Hongkongs Mittelschicht weiß immer weniger, wie sie sich diese sündhaft teure Stadt leisten soll. Die Spaltung in Arm und Reich, der Zustrom der Festlandchinesen, die teuren Wohnungspreise, die Angst, sozial abzusteigen – das alles schürt den Ärger.
Es rumort bei den Jungen. Sie sehen die Ursache ihrer Probleme in den politischen Verhältnissen. Sie wenden sich gegen die heimischen Tycoons, die Geschäftsmagnaten, die in der Stadt das Sagen haben und mit den Kommunisten in Peking eng zusammenarbeiten. Gemeinsam verweigern beide den Hongkongern echte Demokratie. Die jüngsten Massenproteste sind nicht aus dem Nichts entstanden. Hongkong besitzt seit langem eine aktive Zivilgesellschaft und eine lautstarke Protestkultur. Und doch waren alle überrascht von der Wucht der so genannten Regenschirmrevolution im vergangenen Herbst.
"Die chinesische Regierung nimmt uns die Freiheit Stück für Stück weg"
Zehntausende auf den Straßen - im offenen Protest gegen ihre Stadtregierung und gegen die kommunistische Führung in Peking. Sie besetzen Straßen, verwandeln das sterile Finanzviertel in ein buntes Demokratielager. Konkret geht es den Demonstranten um ein demokratisches Wahlverfahren. Doch sie kämpfen auch um ihre wirtschaftliche Zukunft. Und sie kämpfen gegen den wachsenden Einfluss Pekings.
"Wir müssen unsere Freiheit schützen. Die chinesische Regierung nimmt uns die Freiheit Stück für Stück weg. Sie kontrollieren immer mehr Zeitungen und die Medien. Wir sind hier, um uns dagegen zu wehren."
"Wir müssen handeln, zunächst mal ohne an das Ergebnis zu denken. Was wir tun müssen, müssen wir tun. Ich habe keine Angst. Meine größte Sorge ist vielmehr: Wenn ich jetzt nichts unternehme, habe ich in zwanzig Jahren nichts mehr zu sagen."
Die Demonstranten warnen: Hongkongs Freiheiten seien in großer Gefahr, die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Rechtsstaatlichkeit. Peking unterhöhle die seit 1997 verbriefte weit gehende Autonomie der Stadt, regiere immer offener in Hongkonger Belange hinein.
Tatsächlich verschwinden immer mehr pekingkritische Medien oder lassen die Kritik weg. In der Wirtschaft sitzen immer mehr Festländer an den Schalthebeln. Chinas Staatspräsident Xi Jinping spricht vom "chinesischen Traum" einer wiedererstarkten Nation. Er plant den Aufstieg Chinas zur Weltmacht unter strammer kommunistischer Führung. Die staatliche Propaganda richtet sich immer offensiver gegen "westliche Werte". Ein demokratisches Hongkong passt nicht in dieses neue China. Gut möglich, dass die Tage der Hongkonger Freiheit zu Ende gehen.
Egal, wie das Ganze ausgeht: Die Hongkonger Demonstranten haben die Welt überrascht mit ihrer Leidenschaft, ihrer Kreativität und ihrer großen Disziplin. Der Politikwissenschaftler Willy Lam:
"Es ist das erste Mal seit der Gründung Hongkongs durch die Briten im Jahr 1840, dass wir einen solchen spontanen Ausbruch von Enthusiasmus und Leidenschaft erleben für ein Hongkong, das von Hongkongern regiert wird. Die Hongkonger wollen ihr eigenes Schicksal bestimmen. Die Proteste sind aber auch eine Reaktion auf den Versuch Pekings, Hongkong Schritt für Schritt immer stärker zu kontrollieren."
Das weltoffene Hongkong ist bedroht
Zweieinhalb Monate lang halten die Demonstranten den Protest aufrecht. In den Protestzonen bleibt es die meiste Zeit über friedlich und freundlich. Die Demonstranten organisieren sich selbst, sammeln Sachspenden und verteilen sie. Eine Studentin:
"Wir haben hier Kekse, Medizin, Wasser, Regenschirme, Gesichtsmasken, Süßigkeiten, Obst Brot, Batterien. Wir teilen das an alle aus, die etwas brauchen. Lebensmittel, die schnell verderben, geben wir als erstes raus. Nichts verkommt hier. Alles wird genutzt und geschätzt, so gut wir können."
Kleine Gruppen durchstreifen das Protestgelände und sammeln den Müll ein. Andere rubbeln Flecken auf der Straße weg.
Es steckt viel Hongkong in diesem Verhalten. Die Hongkonger sind ein ordentlicher Menschenschlag, der an der Bushaltestelle brav Schlange steht. Zurückhaltend und effizient. Fleißige Südchinesen. Peking versuchte die Proteste in den staatlichen Medien als chaotisch, die Studenten als Krawallmacher darzustellen. Vor Ort bot sich ein anderes Bild. Hongkongs junge Bürger hatten sich ihre Stadt zurückerobert, diesen von den Kommunisten geschützten Hort des Großkapitals. Zumindest für ein paar Wochen.
Gemächlich rumpeln die alten Doppeldeckerstraßenbahnen durch Hongkongs Innenstadt. Auch sie sind ein Relikt aus britischen Kolonialzeiten. Die Bahn wirkt fehl am Platz in dieser modernen und schnellen Metropole und ist ziemlich unpraktisch.
Doch perfekt, um die Stadt langsam in sich aufzunehmen.
Die Strecke führt durch quirlige Viertel, in denen kleine Haustempel offenstehen, wo noch ein altes China lebt, das es seit der Kulturrevolution auf dem Festland nicht mehr gibt. Vorbei an christlichen Kirchen aller Ausrichtungen, indischen Schneidern, philippinischen Dienstmädchen, hongkongstämmigen Rückkehrern aus Kanada, englischen und chinesischen Bankern. Da sind Restaurants mit kantonesischer Küche, mit dampfenden Bambuskörben, aber auch italienische Osterien und australische Kaffee-Bars. Hongkong ist ein globaler Knotenpunkt.
Das Weltoffene, Liberale, Rechtsstaatliche – das hat Hongkong groß gemacht. Dieses Hongkong ist bedroht. Der nationalistische Einparteienstaat stört sich an der Andersartigkeit dieses Ortes, an den kritischen Gedanken, die hier wachsen dürfen, am westlichen Einfluss. Aus dem Fenster der Straßenbahn wirkt diese Stadt groß und mächtig. Aus Pekinger Sicht jedoch ist sie wohl nur eine Fußnote in der langen chinesischen Geschichte.