"Ich hasse dieses sogenannte kommunistische China"
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Weil er ein Gedicht über die Niederschlagung des Aufstandes auf dem Tiananmen-Platz schrieb, musste der Schriftsteller Liao Yiwu fliehen. Zum 30. Jahrestag will er sein Gedicht öffentlich in Deutschland vorlesen - um die Erinnerung an das Ereignis zu stärken.
Dieter Kassel: Am 4. Juni ist der 30. Jahrestag des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, dem Tiananmen. In der Nacht vor der blutigen Niederschlagung der Studentenproteste hat Liao Yiwu ein Langgedicht geschrieben, das sein Leben verändern sollte. Er wurde inhaftiert und gefoltert und flüchtete 2011 nach Deutschland. Hier, im bayrischen Murnau, wird er am Sonntag das Gedicht "Massaker" noch einmal aufführen.
"Die Menschen sprechen wieder über das Ereignis"
Das Gedicht, das Ihr Leben für immer verändert hat, ist in der Nacht vor dem 4. Juni 1989 in China entstanden. Es atmet diese explosive, tödliche Stimmung. Warum führen sie es jetzt, 30 Jahre später, noch einmal auf? Wie aktuell ist es heute noch?
Liao Yiwu: In den letzten 30 Jahren schien es so, als ob die Welt dieses Massaker schon vergessen hat. In diesem Jahr am Jahrestag des Massakers habe ich das Gefühl, als ob die Welt wieder aufgewacht ist. Menschen sprechen wieder über das Ereignis, über das Verbrechen. Die Bilder von dem Mann vor dem Panzer werden wieder häufig in der Öffentlichkeit gezeigt. Ich sehe das für mich als einen sehr guten Anlass, noch mal die Erinnerung zu stärken und noch mehr Anregung in der Welt zu setzen. Ich habe das Gedicht schon in New York, Paris und Lyon vorgetragen. Ich werde es auch in London und in Tokio tun.
Aber sehr wichtig ist, dass ich nach Murnau in Bayern gehe. Dort werde ich das Gedicht vorlesen. Das ist ein sehr, sehr wichtiger Auftritt für mich, weil Deutschland die erste Station von meinem freien Leben ist, und das ist auch meine Heimat geworden. Das ist sowohl für die Geschichte von großer Bedeutung als auch für mich als Privatperson.
Einen hohen Preis bezahlt für das Gedicht
Dieter Kassel: Sie haben aber für dieses Gedicht einen hohen Preis zahlen müssen. Sie haben viele Jahre im Gefängnis gesessen, Sie wurden gefoltert, Sie mussten am Ende Ihre Heimat vor ungefähr acht Jahren verlassen. Haben Sie jemals bereut, dass Sie dieses Gedicht geschrieben haben?
Liao: Ich sehe das als mein Schicksal. Ich hätte, wie viele anderen Chinesen, damals nie gedacht, dass mit Panzern und Maschinengewehren gegen die zivile Bevölkerung vorgegangen würde. Als ich im Radio Schüsse und Schreien gehört habe, habe ich miterlebt, dass die Leidenschaft der Chinesen, die Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie so brutal unterdrückt wurden. Das war ein unvergesslicher Abend. Dieses Gedicht zu schreiben, war für mich auch ein unvergessliches Schaffen.
Ohne dieses Gedicht bin ich nicht der Liao Yiwu von heute und ich bin auch nicht der gleiche Künstler und gleiche Poet und Schriftsteller, wie ich heute bin. Und ich denke, das ist vielleicht auch Gottes Plan, dass durch das Massaker und dann durch mein Gedicht mein Leben eine Wendung genommen hat und mich am Ende auch nach Deutschland geführt hat. Da habe ich keine Reue.
"Mein Werk hat Einfluss in China"
Kassel: Hier in Deutschland arbeiten Sie weiter als Schriftsteller. Sie haben gerade ein neues Buch veröffentlicht: "Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand". Was können Sie als Schriftsteller, als Dichter von Deutschland aus heute erreichen? Nimmt man Sie in China überhaupt noch wahr?
Liao: Dieses Buch wird außer in Deutsch auch in anderen Sprachen veröffentlicht, darunter Chinesisch, Französisch, Japanisch und Englisch. Die chinesische Version wurde eigentlich schon im Jahr 2012 veröffentlicht. Von reisenden Chinesen wurden in Taiwan viele Exemplare gekauft und dann zurück nach China gebracht und dort dann durch Raubkopien auch verbreitet und auch gelesen. Dadurch hat mein Werk noch Einfluss in China.
Ein wichtiger Bestandteil des Buches sind die Briefe im Gefängnis. Ein anderer wichtiger Teil ist der letzte Moment von Liu Xiaobo. Ich habe versucht, mit diesem Teil der Welt zu zeigen, dass eine andere Art von Massaker, ein Mord auf Live-Übertragung stattgefunden hat, wie er stirbt und wie seine Leiche nicht ins Ausland gehen durfte und dann auch noch in China vernichtet wird. Das ist für mich von großer Bedeutung, dieses Buch zu schreiben. Das ist zwar ein kleines Buch, aber wir sehen eine Kontinuität von damals, der Herr Wang, der vor dem Panzer steht, bis heute, also bis zum Tod von Liu Xiaobo, und das wird dann auch in die Zukunft weitergehen.
"Die Menschen in der Staatsführung sind Technokraten"
Kassel: Aber viele Menschen in Europa, in anderen Ländern der Welt sehen China heute als modernes Land. China ist eine riesige Wirtschaftsmacht, es gab eine Öffnung, Chinesen reisen in den Westen, viele Menschen reisen dorthin. Oft hat man das Gefühl, dieses Regime, diese Unterdrückung wird öffentlich gar nicht wahrgenommen. Wie sehen Sie China heute? Ist irgendwas heute besser als vor 30 Jahren?
Liao: Das heutige China sehe ich so: Das ist ein großes diktatorisches Reich mit einer totalen Überwachung durch hochtechnologische Mittel. Und die Menschen, die in der Staatsführung sitzen, sind meistens Technokraten. Die glauben an immer bessere Technologien und denken, wenn sie diese Technologien besitzen und gegen das eigene Volk anwenden, egal, wie sie die Menschen ausbeuten und unterdrücken, werden sie immer siegen, werden sie unbesiegbar.
Vor allem mit den Überwachungstechnologien im Internet haben die geschafft, viele Menschen aus der Ferne auch in demokratischen Ländern zu überwachen, zum Beispiel durch Hardware oder Software von Huawei oder WeChat. Sie haben auch geschafft, langsam eine Herausforderung gegenüber dem Westen darzustellen. Das ist eine Herausforderung, die von der Diktatur ausgeht und die Werte von Demokratie und Freiheit herausfordert. Und sie möchten auch, dass ihre Werte, diese Diktatur und Angst, Ausbeutung und Terror in den Westen exportiert werden. Wir müssen endlich aufwachen und etwas dagegen unternehmen.
"Die Versuchung ist groß"
Kassel: Da Sie selbst den Konzern Huawei erwähnt haben: Darüber wird gerade sehr viel gestritten. In den USA ist eine Entscheidung getroffen worden, in Europa ist das noch unterschiedlich. Was moderne Technik angeht und Überwachung von chinesischen Geheimdiensten außerhalb Chinas: Würden Sie sich wünschen, dass da die internationale Gemeinschaft, westliche Länder kritischer, vorsichtiger sind und trotz der wirtschaftlichen Kontakte sagen, wir setzen deutliche Grenzen?
Liao: Die Gefährlichkeit dieses Konzerns Huawei oder anderen chinesischen Konzernen, die durch die Technologien und dann durch die Zusammenarbeit mit den chinesischen Geheimdiensten der ganzen Welt Schaden zufügen können, das weiß fast jeder. Aber die Versuchung ist zu groß, weil China auch ein riesengroßer Markt ist. Alle westlichen Konzerne möchten dort Geld verdienen, möchten dort ihren Profit maximieren. Das ist, wie wenn man Opium raucht und dann langsam wird man süchtig. Man weiß noch, dass es schädlich für den Körper, für die Gesundheit ist, aber man kann nicht aufhören, das Opium weiterzurauchen. Diese Versuchung ist einfach zu groß.
Die westlichen Länder und Konzerne können sich selbst nicht mehr kontrollieren, den chinesischen Markt und dann auch die chinesische Diktatur zu umarmen und unfreiwillig sie zu unterstützen. Jetzt sind wir an einen Moment gekommen, dass wir aufwachen müssen, dass wir nüchtern unsere Demokratie betrachten können, weil Demokratie als ein System gegenüber Diktatur ist sehr fragil und sehr verletzlich. Es ist nicht so effektiv wie ein diktatorisches System, wo die Entscheidung getroffen wird und dann gleich umgesetzt wird.
In der Demokratie gibt es viele Diskussionen, Meinungsunterschiede, und in diesem Wettkampf von Tatkräftigkeit sind wir eigentlich die schwächere Partei. Aber die Sicherheit, die demokratischen Werte und die Freiheit vor allem in unserer Gesellschaft sind heilig für uns. Wir müssen eine klare Haltung zeigen und dagegen etwas unternehmen. Da gibt es überhaupt nichts zu diskutieren.
"Ich vermisse die schöne Sichuan-Küche"
Kassel: Sie haben selbst schon gesagt, dass Sie Deutschland inzwischen auch als Heimat empfinden. Trotzdem die Frage: Denken Sie überhaupt noch darüber nach, können Sie sich vorstellen, irgendwann einmal wieder nach China zurückzukehren?
Liao: Ich habe mehrmals gesagt, ich hasse dieses sogenannte kommunistische China oder das China unter der Kommunistischen Partei. Ich verachte auch seine Staatsführung, weil viele meiner Freunde in diesem System umgebracht wurden. Aber ich vermisse meine Heimat Sichuan und ich vermisse die schöne Sichuan-Küche und auch den hochprozentigen Alkohol aus Sichuan. Vielleicht können wir eines Tages, wenn das böse Reich auseinanderfällt, auch ein anderes System wählen für unser Sichuan. Wir müssen also nicht mehr Peking folgen.
Peking kann gerne weiter eine Diktatur bleiben und wir, Sichuan, haben unsere Demokratie. Wir wählen unsere Abgeordneten oder Staatsführung, wir können sogar einen Sichuan-Koch oder einen Weinbrenner zu unserem Präsidenten wählen. Und wenn das wahr wird und wenn Sie gerne mein Land Sichuan besuchen möchten, nicht China, sondern Sichuan, vielleicht kann ich helfen, sehr schnell ein Einreisevisum zu bekommen. Dort wirst du ständig schöne Küche genießen und auch schönen Reisschnaps trinken, dass Du nicht mehr zurückkehren möchtest nach Deutschland.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.