Inklusion à la Dortmund
Singen mit Behinderten lief bisher immer unter der Überschrift "Musiktherapie". In Dortmund geht Professor Irmgard Merkt neue Wege. Sie hat einen inklusiven Chor gegründet. Behinderte sind hier einfach nur Mitglieder und lernen sollen Studenten - ein aufwendiges Projekt mit einer Prise Chaos und viel Herz.
Im Foyer des Hörsaals drängeln sich junge Leute, Studenten, Studentinnen und vor allem die geistig Behinderten. Manche hängen umständlich ihre Jacken an die Garderobe, holen sich einen Keks oder schauen nach draußen, wo andere Mitsänger aus Taxen steigen. Elfriede zum Beispiel kommt direkt aus ihrer Behinderten-Werkstatt zum Singen hierher. Und das schon lange.
Elfriede: "Weil's mir Spaß macht, zweitens macht die Lunge frei und drittens hab ich nette Gesangskollegen."
Elfriede stimmt zum Beweis auch gleich ein Lied an.
Irmgard Merkt: "Gut! Dann fangen wir an. Wie immer."
Irmgard Merkt leitet den Chor. Die Professorin für Rehabilitationswissenschaft hat vor dreieinhalb Jahren das Dortmunder Modell Musik gegründet. Musikalische Fortbildung für Menschen mit geistiger Behinderung. Und zwar in drei Stufen: Breitenbildung, Talentförderung und Professionalisierung.
Irmgard Merkt: "Breitenbildung heißt: Jeder der Lust hat kann mitmachen. Talentförderung heißt: wir wählen aus, wen wir unterrichten. Und die Professionalisierung heißt: wir bilden Bands oder Orchester oder Gruppen, die mit musikalischen Profis zusammenarbeiten und anspruchsvolle Musik machen. Und der Chor ist Teil der Breitenbildung. Da gibt es keine Bedingung für die Aufnahme."
Mit federnden Schritten geht Irmgard Merkt in die Mitte des Stuhlkreises.
50 Studierende und 20 Menschen mit geistiger Behinderung gehen ziellos durch den Raum und klatschen sich ab, möglichst im Rhythmus. Eine bunte Menge, die immer lockerer wird und sich immer zwangloser mischt.
Irmgard Merkt: "Und das ist wirklich ganz witzig. Zunächst sitzen alle Menschen mit Behinderungen auf der einen Seite, Studis auf der anderen Seite. Es ist wie überall, wie in der Straßenbahn. Weil auch die die Sonderpädagogik studieren, die haben nicht alle Kontakt mit erwachsenen Menschen mit Behinderung. Und jetzt plötzlich sollen die zusammen etwas machen, und Klatschen und tanzen und das ist für die ein ganz großer Lernprozess."
Dann stellt Irmgard Merkt ein neues Lied vor, einen Tanz aus Brasilien.
Die Studenten analysieren
Pascal am Klavier spielt es vor, dann singen alle mit. Irmgard Merkt lässt zwei große Kreise bilden und zeigt die Tanzschritte.
Irmgard Merkt: "Und ich habe seit drei, vier Semestern habe ich ein Semesterthema. Und das sage ich auch vorher. Und in diesem Semester habe ich Lieder, zu denen man tanzen kann oder zu denen es Tänze gibt aus aller Welt."
Das Singen und Tanzen strengt an, deshalb gibt es eine Pause. Manche holen sich draußen eine Limo, Katja und Maria setzen sich auf die Stühle am Rand, holen Hefter aus ihren Taschen und machen sich Notizen. Für die beiden Studentinnen zählt die Veranstaltung als Seminar. Sie haben die Aufgabe, sich selbst und den Chor zu beobachten und zu analysieren.
Maria: "Zum Beispiel, dass wir hier nicht mit Noten singen, sondern nur nach Gehör, dass wir in Kleingruppen arbeiten, in der immer ein Mensch mit Behinderung aus den Werkstätten ist und mehrere Studenten, dass wir dann eben auch Tänze in Großgruppen machen …"
Katja: "Und dass die so keine Gedanken sich dazu machen, sondern einfach singen, und wir immer überlegen, hä, hört sich das jetzt gut an? Die denken nicht soviel darüber nach wie wir, die machen einfach, nach Gefühl."
Die Pause ist vorbei. Irmgard Merkt verteilt ein paar Rasseln an die Behinderten, auch an Ingo.
Ingo: "Wir machen jetzt nächstes Jahr neue Übung und dann ganz große Chorfeier und dann so üben und singen und tanzen."
Ingo meint das große Abschlusskonzert - dieses Jahr mit Tanzliedern. Davor war es die brasilianische Samba, und davor Mussorgskis "Bilder einer Ausstellung". Diese Programme sehen und hören hunderte Zuhörer und sind begeistert.
Irmgard Merkt: "Und es fängt an, dass immer mehr Leute verstehen, dass wir von Kultur und kultureller Bildung reden, und nicht von Musiktherapie. Weil die Falle war ja früher immer also Trisomie 21, aha, lebenslange Musiktherapie. Oder bestenfalls therapeutisches musizieren. Und wir sind da ganz anderer Meinung: Wir gestalten Kultur und da können wir auch weiter, und da müssen wir auch weiter."
Nach zwei Stunden Probe ist die Luft raus. Maria und Katja packen ihre Hefter weg.
Irmgard Merkt: "Gut! Dann fangen wir an. Wie immer."
Der Chor Stimmig singt sein übliches Abschiedslied.
Irmgard Merkt: "Für mich ist es auch immer ein Abenteuer. Aus einer Energiefülle irgendwas zu gestalten, dass macht mir großen Spaß."
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