Rettung fast verloren gegangener Kultur
Die jüdische Sakralmusik und Folklore ist mit der Machtergreifung der Nazis fast vollends vernichtet worden. Der Leipziger Synagogalchor widmet sich dieser Musik, das Besondere: Ihm gehören 30 nicht-jüdische Sänger an.
"Das ist eine ganz besondere Sache, dass vor allem wir, die wir Nachfahren derer sind, die diese Musik im Prinzip fast ausgelöscht haben, die Synagogen abgebrannt, alle Orgeln, alle Noten. Es ist so viel Musik diesen schrecklichen Flammen zum Opfer gefallen. Und dass wir jetzt als Nachfahren einen kleinen Anteil mit leisten können, das wieder gut zu machen, das ist auch eine wunderbare Sache und für mich auch ein großer Antrieb, mich mit meiner ganzen Kraft reinzustecken."
Seit knapp zwei Jahren leitet Ludwig Böhme den Leipziger Synagogalchor. Der jungenhafte 34-Jährige, Sohn zweier Berufsmusiker, hat die Liebe zur Musik bereits mit der Muttermilch aufgenommen und schon im Vorschulalter Klavier- und Gesangsunterricht genommen. Es folgten zehn Jahre Thomanerchor und das Studium zum Chordirigenten.
Vieles am Leipziger Synagogalchor, den es seit 1962 gibt, ist ungewöhnlich: Er ist kein Synagogen-, sondern ein Konzertchor, und neben der jüdischen sakralen Musiktradition hat er sich auch der jiddischen und hebräischen Folklore verschrieben. A capella oder mit Orgel-, Klavier- oder Geigenbegleitung, mit und ohne Solisten. Zudem wohl einzigartig in Europa: Die rund 30 Sängerinnen und Sänger sind allesamt Nicht-Juden.
"Es ist vielleicht auch eine Art Wiedergutmachung, dass man sich wieder bemüht, das, was eigentlich fast verloren gegangen ist, noch einmal ordentlich zu singen. Da wo ich jetzt wohne, haben früher viele Juden gelebt. Und die Tante meines Mannes, die bei uns gelebt hat, ist dort aufgewachsen und hat oft erzählt von den jüdischen Mitbürgern dort",
begründet die 47-jährige Altistin Claudia Kluge ihren Chorbeitritt vor einem Jahr.
Nachwuchssorgen gibt es kaum
Die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Geschichte ist für die meisten Choristen neben der Begeisterung für jüdische Sakralmusik und Folklore von zentraler Bedeutung.
"Man kommt nicht umhin, sich mit der Geschichte zu beschäftigen oder schon beschäftigt zu haben. Ich glaube, die meisten, die im Chor singen, beschäftigten sich sowieso damit."
Der 30-jährige Tenor Hendrik Eibisch ist sich sicher, dass …
"… es für viele Juden sehr wichtig ist, dass vor allem auch vielleicht deutsche Nicht-Juden diese Musik und verloren gegangene oder fast verloren gegangene Kultur aufrechterhalten, weil es eben ohne solches Engagement diese Kultur gar nicht mehr gäbe."
Tatsächlich ist diese Musiktradition mit der Machtergreifung der Nazis fast vollends vernichtet worden und spielt auch in der heutigen jüdischen Welt kaum noch eine Rolle. Das moderne Hebräisch ist geprägt von der aus der Mittelmeerregion stammenden sephardischen, statt der damaligen in Deutschland gebräuchlichen aschkenasischen Aussprache.
Nachwuchssorgen hat das Ensemble kaum. Die Theologiestudentinnen Hanna Henke, 21, und Lydia Enßle, 19, beide im Sopran, sind die Küken im Chor.
"Ich habe den Chor zuerst gehört bei dem Gedenkgottesdienst in der Thomaskirche zur Reichspogromnacht und war zunächst total fasziniert durch die Musik und ganz ergriffen und habe mich deswegen dort vorgestellt. Und jetzt singe ich seit einem Jahr in diesem Chor und bin unglaublich glücklich, ein Teil dessen zu sein. Jedes Stück ist eine Besonderheit, weil es irgendwie geschafft hat, diese Zeit des Zweiten Weltkriegs zu überleben. Und das macht es für mich so besonders."
Bewegende Auftritte vor Zeitzeugen
Viele Folklorestücke sind mit ihrem Inhalt allerdings schwere Kost. Da geht es etwa um die Mutter, die ihr hungriges Kind in den Schlaf wiegt und ihm vormacht, alles wäre gut, aber eigentlich nicht weiß, wie sie das Brot für den nächsten Tag auftreiben soll, da geht es um brennende Städte, um Vertreibung.
Hendrik Eibisch: "Es gibt ja sehr viel Ernstes, sehr viel Trauriges. Auch der musikalische Sprachschatz ist ja sehr schwermütig, aber immer gemischt mit Positivem. Das ist immer fröhliche Traurigkeit. Ich sage immer Lachen und Weinen zugleich."
Zehn bis 20 Konzertauftritte pro Jahr sind üblich. Auch die großen Häuser wie Dresdner Philharmonie, Frauenkirche, Leipziger Gewandhaus und das Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt standen schon auf dem Programm. Und längst ist der Laienchor international bekannt. Auf seinen zahlreichen Auslandsreisen ist das Ensemble Botschafter für die jüdische Kultur. Die Liste umfasst neben europäischen Ländern auch Südafrika, Südamerika, die USA und Israel.
Paul Max, ebenfalls ehemaliger Thomaner und seit 2001 im Bass dabei, erinnert sich an den Auftritt 2005 in Brasilien:
"Das war ein Konzert, das fand ich sehr bewegend. Da hatten wir gesungen, es waren auch viele ältere Menschen, die ausgewandert sind aus Deutschland im Krieg oder davor. Die haben plötzlich ihre Kinderlieder, die sie seitdem nicht mehr gehört hatten, die haben dann auch mitgesungen teilweise, die haben auch geweint. Es war einfach so berührend. Und wenn man dann dasteht, man kriegt das mit, das geht einem schon sehr nahe."
Besonders bewegend waren die beiden Konzertreisen nach Israel, zuletzt 2010. Reinhard Riedel, seit 45 Jahren im Tenor oder an der Geige und damit das dienstälteste Chormitglied, erinnert sich:
"Wir hatten wirklich das unwahrscheinliche Glück, dass wir in der Synagoge in Yad Vashem singen durften. Das ist insofern eine Besonderheit, weil die Knesset darüber befindet - wir waren wohl der erste deutschsprachige Chor, der dort seit dem Holocaust wieder auftreten durfte."
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