Der "Cante Alentejano" erobert Portugals Metropolen
Das Alentejo ist Portugals größte, landwirtschaftlich geprägte Region. Hier existiert seit Jahrhunderten der Chorgesang "Cante Alentejano". Seit 2014 UNESCO-Weltkulturerbe, erobert die lang vernachlässigte Tradition nun renommierte Konzertsäle in Lissabon und Porto.
Zu Beginn des Jahres erlebte der renommierteste Konzertsaal in Lissabon eine Premiere: Auf der Bühne im CCB standen Dutzende von Sängern in weißen Hemden, dunklen Trachten und breiten Lederhüten und stimmten einen Chorgesang an: Der "Cante Alentejano" wurde vom Lissabonner Publikum frenetisch gefeiert. Unter den 1400 Zuschauern im ausverkauften Saal saßen der portugiesische Staatspräsident und andere hohe Vertreter aus Politik und Kultur.
Eine derartig hohe Anerkennung habe der Cante noch nie erfahren, sagt der Musikanthropologe Paulo Lima:
"Vor einem Jahr wäre ein solcher Konzerterfolg unmöglich gewesen. Noch kurz bevor wir im November zur UNESCO gefahren sind, galt der Cante als ein langweiliger, trauriger Gesang. Ein bisschen so, wie man vor ein paar Jahrzehnten noch den Fado gesehen hat – jenen poetischen Gesang, der in den Armenvierteln Lissabons entstanden ist. Durch die internationale Anerkennung des Cante Alentejano als Weltkulturerbe hat sich dann aber plötzlich alles verändert. Ich kam aus Paris zurück nach Portugal und der Cante war auf einmal ein echter Popstar."
Der Cante ist ein Chorgesang, dessen Ursprung manche Musikwissenschaftler aufgrund seines simplen musikalischen Aufbaus bis in vorchristliche Zeiten verlegen. Es gibt Theorien, die auf altgriechische, jüdische oder maurische Wurzeln hinweisen, doch beweisen ließ sich das bisher nicht. Der Cante folgt einem einfachen Schema. Ein Solist beginnt mit einer freien Strophe aus vier Versen, dann übernimmt eine zweite Stimme und fügt ein dazu passendes alt bekanntes Lied an, das dann im Chor weitergesungen wird.
Botschaft immer wieder erneuert
Paulo Lima hat bei seinen wissenschaftlichen Untersuchungen herausgefunden, dass der Cante im 19. Jahrhundert eine neue Bedeutung im Leben der Tagelöhner auf den Feldern im Südalentejo bekam. Im politischen Kampf zwischen konservativen Kräften auf dem Land und linksrevolutionären Gruppen in den Städten sei der Cante von Großgrundbesitzern und Kirchenleuten als Instrument benutzt worden, um die Landarbeiter unter Kontrolle zu halten. Doch die Botschaft der Chorlieder hätte sich im Verlauf der portugiesischen Geschichte immer wieder geändert:
"Was den Cante, aber auch den Fado auszeichnen, ist, dass sie im Gegensatz zu anderen traditionellen Musikformen in Portugal nicht zur Folklore wurden. Der Cante lebt – und zwar immer in der Gegenwart. Das war sicherlich ein Grund, warum der Cante jetzt Weltkulturerbe wurde: Er zeigt eine stetig währende Kraft der Erneuerung. Wenn wir uns die Liedtexte anschauen, dann ging es auch immer um gegenwärtige politische Fragen. Erst die Monarchie, dann die Republik, die beiden Weltkriege, die Krisen, die Nelkenrevolution und heute findet man Lieder, die gegen die Troika gerichtet sind."
Der Cante erfüllt auch eine wichtige soziale Funktion, die im 21. Jahrhundert sogar noch an Bedeutung hinzugewonnen hat. In vielen Dörfern und Kleinstädten im Alentejo zeigt sich ein besorgniserregendes Bild: Es gibt kaum Jobs, die Jungen ziehen weg, nur die Alten bleiben. Und in der Finanz- und Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre sind immer mehr öffentliche Einrichtungen geschlossen worden: Schulen, Postämter, Gesundheitszentren. Das gemeinsame Singen der Lieder in den Gesangsvereinen oder Tavernen ist deshalb für Paulo Lima ein ganz wichtiger Bestandteil des Alltags im Alentejo
"Für mich ist der Cante Alentejano wie ein Zistrosengewächs. Die Zistrose ist die letzte pflanzliche Barriere, bevor die Wüste beginnt. Genauso ist unser Chorgesang in vielen Gemeinden der einzige Moment, in dem die Menschen noch zusammenkommen. Der Cante kann vieles sein, und seine Ursprünge und seine Geschichte sind hochinteressant, aber im hier und jetzt erfüllt er eine ganz wichtige Aufgabe: Er gibt den Menschen im südlichen Alentejo das Gefühl, eine Gemeinschaft zu sein."