Chris Kraus, Das kalte Blut
Diogenes, 1187 Seiten, 32 Euro
Verbrechen und Täuschung
In seinem Roman "Das kalte Blut" erzählt der Filmemacher Chris Kraus von der Verstrickung seines Großvaters in die Mordtaten der SS in Osteuropa – und warum dieser Mann in der BRD als Geheimdienstler arbeiten durfte. Kraus war fasziniert von der Frage: "Wie konnte er seine Familie so täuschen?"
Eigentlich sollte "Das kalte Blut" ein Film werden. Man kann nur spekulieren, wie viele Stunden er gedauert hätte – denn als Roman ist "Das kalte Blut" ein Buch von nahezu 1200 Seiten geworden. 15 Jahre hat Chris Kraus an ihm gearbeitet. Er ist Jahrgang 1963, und man kennt ihn vor allem als Regisseur von großen, mit vielen Preisen ausgezeichneten Kinofilmen. Seit einigen Wochen läuft sein jüngster Film "Die Blumen von gestern" in den deutschen Kinos – eine Geschichte von Nazi-Schuld und -Verbrechen und Verdrängung. Um die braune Vergangenheit und den Umgang mit ihr geht es, wenn auch ganz anders und weitaus epischer, auch in dem neuen, zweiten Roman von Chris Kraus. "Das kalte Blut" ist eine deutsch-baltische Familiensaga über drei Generationen vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis ins Jahr 1974.
Im Gespräch beim "Bücherfrühling" erzählte Chris Kraus von seinen Recherchen für diesen Roman, die zehn Jahre dauerten und ihn tief in die Vergangenheit der Familie Kraus führte. Eine Cousine von ihm hat bereits ein erstes Buch darüber geschrieben, das er auswerten konnte:
"Ich habe so viel erfahren nicht nur über die Geschichte meiner Familie, meines Großvaters, sondern auch über die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, weil mein Großvater in den SS-Einsatzgruppen war, dann zum Sicherheitsdienst ging, also zum Geheimdienst der Nazis, und später bei den westdeutschen Geheimdiensten eingestiegen ist. Das hatte mich so interessiert und fasziniert, dass ich ein zweites Buch geschrieben habe."
Das übergreifende Thema der weit verzweigten Handlung sei Täuschung, sagte Kraus:
"Täuschung in jeder Form, in jeder Facette. In privater Hinsicht täuschen sich auch die drei fiktiven Hauptfiguren, und in politischer täuschen sich die Systeme gegeneinander, ineinander, durcheinander hindurch. Das war das Hauptthema überhaupt dieses ganzen Romans, weil ich mich natürlich auch gefragt habe: Wie hat mein Großvater seine Familie täuschen können und gleichzeitig so ehrlich wirken können. Das war die große Distanz, die ich überbrücken musste, die Distanz zu ihm, und das habe ich mich auch bei den anderen auftretenden Figuren gefragt."
Freigesprochen und durchgeschlüpft
Nicht nur der Großvater, sondern auch zwei Großonkel von Chris Kraus waren in Nazi-Verbrechen verstrickt:
"Die drei waren alle in der SS-Einsatzgruppe A. Angeklagt wurde einer von ihnen, Hans Kraus, und er war auch ein Jahr im Gefängnis, wurde aber aus Mangel aus Beweisen freigesprochen. Mein Großvater war in vielen sogenannten Täterkomplexen von der Staatsanwaltschaft befragt worden, aber es kam nie zu einer Anklage. Der dritte, Lorenz, der Jüngste, übrigens ein Künstler, auch der Karikaturist der Einsatzgruppe, der wurde gar nicht entdeckt, weil sein Name nicht vorkam, der ist da durchgeschlüpft. Also angeklagt wurde tatsächlich niemand und das hat mich auch so fasziniert, dass zwar bekannt war, was die gemacht haben, aber es kam nie zur offiziellen Anklage. Deshalb konnten die Kontinuitäten vom NS-Regime in die Bundesrepublik Deutschland so ungebrochen weitergehen."
Auf der Homepage des Diogenes Verlags hat Chris Kraus das gesamte Literaturverzeichnis, das heißt seine umfangreichen Quellen für "Das kalte Blut" ausgebreitet. Unter dem Buchstaben K wie Kraus findet man zum Beispiel Vernehmungen und Gerichtsprotokolle:
"Man kann so einen Roman über die Zeitgeschichte, der auch mit Humor arbeitet, nur machen, wenn er gut recherchiert ist und wenn diese aberwitzigen Dinge nicht dem Hirn des kranken Autors entsprungen sind."
Übrigens, ein Film wird aus diesem Stoff natürlich auch noch. 2019 sollen die Dreharbeiten für einen TV-Mehrteiler stattfinden. Chris Kraus sitzt im Augenblick an den Drehbüchern:
"Der Roman ist ja eigentlich die textliche Grundlage für den Film, und nur aus vielen, vielen Zufällen ist es ein Roman geworden."