Chris Kraus: "I love Dick"

Ein autobiografisches Spiel um Selbstentblößung

"I love Dick" von Chris Kraus und Bücherregal
"I love Dick" von Chris Kraus und Bücherregal © Matthes & Seitz Berlin / imago / Westend61
Von Stefan Mesch |
Dreckige Wäsche oder große Kunst? In ihrem autobiografischen Roman "I love Dick" erklärt die amerikanische Künstlerin Chris Kraus, warum Frauen sich in der Literatur nicht selbstentblößen sollten.
"Ihr werdet deutlich weniger verdienen als eure Eltern", hören Menschen der Generation Y seit ihrer Schulzeit. Wer 1980 oder später geboren wurde, hat oft lange mit Zukunftsangst, Konsumzwang und prekären Sackgassen zu tun. Die Kultfilme, Satire, Protestsongs, die dieses Unbehagen schon den 80er- und 90er-Jahren zum großen Thema machten, stammen meist von Künstlerinnen und Künstlern der Generation X, geboren ab 1965: "Fight Club" und "American Psycho", "Die Simpsons" und "Daria", Grunge, "Akte X", "Reality Bites" oder "Six Feet Under"trafen 20 Jahre lang einen kulturkritischen Nerv.
Der Roman "I love Dick" erschien 1997. Chris Kraus, eine Videokünstlerin Ende 30, erzählt darin ein besonders prekäres, wildes, peinliches Jahr im Leben einer Videokünstlerin namens Chris Kraus. Ein autobiografisches Spiel um Selbstentblößung, Herz gegen Hirn - und um die Frage, warum Männer als Autoren und als Künstler mit großer Selbstverständlichkeit privat werden dürfen, Frauen jedoch schnell als "unprofessionell" und "schrullig" abgetan werden, wenn sie ihre eigenen Gefühle zum Thema machen.
Kraus war mit dem deutlich älteren Holocaustüberlebenden und Akademiker Sylvère Lotringer verheiratet. Sie selbst hat nie studiert, tanzte in den 70er-Jahren in New York in Oben-ohne-Bars und blieb zu lange Sekretärin, Hausmädchen, Zuarbeiterin und Seelentrösterin ihres gefeierten, selbstbewussten Partners.

Auf peinliche Art fasziniert

Dann trifft das Paar auf Dick: einen Kulturwissenschaftler, der allein in der kalifornischen Provinz lebt. Schon nach dem ersten Treffen schreibt Kraus selbstkritische, übergriffig haltlose Briefe. Sylvère liest und schreibt mit. Zusammen will das unglückliche Paar analysieren, warum Kraus sie auf peinliche Art fasziniert, sie erschüttert und zur Projektionsfläche ihrer Sehnsüchte wird.
"I love Dick" war seiner Zeit weit voraus. 300 postmodern verspielte, doch niemals alberne oder narzisstische Seiten um die Frage, was man zu verlieren hat, wenn man die Hose herunterlässt - als Künstler, als Partner, als Frau. Scham, Selbstbehauptung, Ich-Sagen, Feminismus: Nach einer Neuauflage 2006 wurde der Roman in den USA zum Kultbuch. Autor Kevin Vennemann übertrug ihn 2017 erstmals ins Deutsche - präzise, mit großer Sachkenntnis.
Es ist ein überfälliges Buch. Doch leider keines, das heute noch nötig ist: Genau wie "Die Simpsons" oder Generation-X-Autoren wie Douglas Coupland wirkt auch Chris Kraus fürs heutige Publikum oft staubig, gestrig. "I love Dick" reiht rhetorische Fragen und Beobachtungen zu Alltagssexismus und Borniertheit im Kulturbetrieb aneinander, als ehrliches, doch meist trockenes, schleppendes, nie besonders gewitztes oder kunstvolles Plädoyer: ein Anprangern, Rumgranteln, ein Wust aus Namedropping, eine Materialsammlung, die auf 300 Arten fragt: "Darf ich als Frau etwa nicht 'Ich' sagen?" Ein Tabu, das Bloggerinnen, Journalistinnen und Generation-Y-Künstlerinnen wie Lena Dunham seit 1997 längst brachen.
2014 schrieb Jill Solloway, Autorin bei "Six Feet Under", eine erste TV-Serie für Amazon, "Transparent". 2016 startete sie ein Herzensprojekt: "I love Dick", ebenfalls als Serie bei Amazon. Solloway versetzt Kraus' Affäre ins Texas der Gegenwart, und macht aus Dick (gespielt von Kevin Bacon) einen dreisten Macho mit Cowboy-Attitüde. Ein Pilotfilm ist seit August 2016 verfügbar, eine ganze Staffel folgt - und Solloways Serie macht Spaß, weil die Figuren hier Charme, Farbe, Schwung entfalten, die sie im Buch nie hatten.

Chris Kraus: I love Dick
Aus dem Amerikanischen von Kevin Vennemann
Matthes und Seitz, Berlin 2017.
298 Seiten, 22 Euro