Christa Wolf: Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten. Briefe 1952-2011.
Herausgegeben von Sabine Wolf
Suhrkamp, Berlin 2016,
1040 Seiten, 38 Euro
Ein Leben voller Widersprüche
Christa Wolf war eine eifrige Briefeschreiberin. Sie korrespondierte mit Freunden und Verwandten, mit Kollegen in Ost und West, Journalisten und Funktionären, aber auch mit ihren Lesern. Die liegen nun in einem opulenten Band vor.
Rund 15.000 Briefe enthält der Nachlass von Christa Wolf im Archiv der Berliner Akademie der Künste. Wenn davon nun 483 in einem opulenten Band vorliegen, handelt es sich also bloß um einen Bruchteil davon. Die Herausgeberin Sabine Wolf – mit Christa Wolf weder verwandt noch verschwägert – hat jedoch eine kluge und repräsentative Auswahl getroffen. Sie konnte berücksichtigen, dass die Briefwechsel mit Brigitte Reimann, Anna Seghers, Franz Fühmann und Charlotte Wolf bereits einzeln publiziert worden sind. So sind es hier andere Adressaten, die feste Bezugsgrößen über längere Perioden hinweg bleiben: Lew und Raissa Kopelew zum Beispiel, die immer wieder zu politischen und poetologischen Selbstbestimmungen herausfordern, Max Frisch und später Günter Grass als nahestehende Kollegen im Westen oder – bis zum Bruch nach der Wende – Sarah Kirsch, von der Christa Wolf zu erstaunlich verspielten, märchenhaften Erzählungen angeregt wird.
Aber es gibt auch sorgenvolle Briefe an Nachbarn, freundliche an Leserinnen und Leser, mütterliche an die Kinder, liebevolle an den Ehemann Gerhard Wolf, an Freunde und Familie, mutige an Genossinnen und Genossen bis hinauf zu Erich Honecker, an den zu schreiben sie nicht zögerte, wenn es darum ging, Hilfe für in Bedrängnis geratene Kollegen zu erbitten. Für alle Empfänger fand Christa Wolf einen eigenen Ton, eine besondere Ansprache und eine stets aufrichtige Hinwendung. Das ist das Beeindruckende an diesen Briefen. Sie lassen einen Menschen lebendig werden, der das eigene Dasein und die gesellschaftliche Verantwortung ernst genommen hat.
Dichterleben in der DDR
Die Briefe reichen von 1952 bis ins Todesjahr 2011 oder anders gesagt von der jungen, altklugen Literaturkritikerin, die sich an den Postulaten des sozialistischen Realismus orientiert über die werdende, schon nicht mehr ganz so selbstgewisse Autorin hin zu einer zunehmend konfliktreich agierenden sozialistisch-humanistischen Intellektuellen in einem degenerierten sozialistischen Staat und schließlich zu einer desillusionierten, aber weiterhin engagierten Bewohnerin des wiedervereinigten Deutschlands. Dass sie für eine Genossin vielleicht zu bürgerlich, für eine Bürgerin aber zu sozialistisch war, macht die besondere Spannung aus, die auch in den Briefen andauernd spürbar wird. Das war ihre Tragik, aber eben auch ihre Lebensmelodie.
"Ich habe dieses Land geliebt"
So gesehen wurde Christa Wolf erst ab Mitte der 1960er Jahre, als die Differenzen mit der Partei nicht mehr zu übersehen waren, tatsächlich "Christa Wolf". Sie hat sich nicht danach gedrängt, aber der Konflikt der idealistisch gestimmten Sozialistin im Sozialismus, die an ihren Idealen zweifelte und an der Wirklichkeit verzweifelte, trieb ab da ihr Schreiben an. 1967 geriet sie zum ersten Mal mit Depressionen in klinische Behandlung – auch das ist den Briefen andeutungsweise zu entnehmen. Schon Mitte der 1950er Jahre schickte sie dem Schriftsteller Louis Fürnberg einen Stoßseufzer: "Himmelherrgottsakra, Eure ganze ‚ideologische Klarheit‘ hilft Euch nischt, wenn Ihr kein Talent habt!" Damit begann das Ringen um eine eigene Haltung und Ästhetik oder um das, was Christa Wolf später das "Unsagbare" nannte. In ihrer stets von sich selbst, dem eigenen Alltag und Erleben ausgehenden Literatur versuchte sie, über die Grenzen des bloß Richtigen und politisch Opportunen hinwegzukommen. Dass dieses "Unsagbare" manchmal aber auch einfach bloß der Tatsache geschuldet war, mit Mitlesern bei der Stasi rechnen zu müssen, und dass es deshalb besser wäre, manches nur verklausuliert anzusprechen – ist eine andere Pointe dieses imponierenden, in vielen Nuancen schillernden Briefwerks.