Christa Wolf

Vom Verblassen eines Traumes

Die 2011 verstorbene Schrifstellerin Christa Wolf
Die 2011 verstorbene Schrifstellerin Christa Wolf © picture alliance / dpa / Foto: Tim Brakemeier
Von Ursula März |
Die posthum erschienenen "Moskauer Tagebücher" sind eine Chronik aller Reisen von Christa Wolf in die sowjetische Hauptstadt. Sie zeigen deutlich, wie die Schriftstellerin den Glauben an den Sozialismus nach und nach verliert.
Juni 1957: Die achtundzwanzigjährige Christa Wolf beendet eine dreiwöchige Reise nach Moskau und durch die Sowjetunion. Am Tag vor ihrer Abreise schreibt sie in ihr Tagebuch: "Ich fahre sehr reich beschenkt nach Hause, voller Dankbarkeit, voller neuer Einsichten, die sich vorbereiten, voller tiefer Gefühle". Es ist der erste Aufenthalt der DDR-Schriftstellerin in der Zentrale des kommunistischen Imperiums. Neun weitere Reisen werden bis zum Herbst 1989 folgen, teils privat, teils mit offiziellen Schriftstellerdelegationen. Aber keine wird Christa Wolf je wieder so beflügeln, so in ihrer Hoffnung auf eine utopische Zukunft bestärken wie diese erste.
Geschichte einer schmerzhaften Desillusionierung
Oktober 1989: Schon beim Einchecken am Ostberliner Flughafen Schönefeld ist Christa Wolf angewidert "von der allgemeinen Rücksichtslosigkeit" der Menschen um sie herum. Das Reiseziel Moskau wirft ungute Signale voraus. Es überkomme sie, schreibt Christa Wolf in ihrem Tagebuch, "das Gefühl, die Person verschwinde je weiter gen Osten desto mehr hinter und in der Masse". In der Nacht zuvor wurde ihre Tochter während der Leipziger Demonstrationen in Untersuchungshaft genommen. Das Ende des Staates, dem Christa Wolf, zumindest äußerlich, über Jahrzehnte hin die Treue hielt, ist absehbar.
Dass sie selbst am Ende ihrer Hoffnungen auf das Gelingen des historischen Experiments namens Sozialismus angekommen ist, führt der von ihrem Mann Gerhard Wolf postum herausgegebene Band "Moskauer Tagebücher" geradezu drastisch vor Augen. Denn die Chronik von Christa Wolfs zehn Moskaureisen lässt sich als Geschichte einer schmerzhaften Desillusionierung verstehen, und Christa Wolfs Verhältnis zum Großen Bruder Sowjetunion als Brennspiegel ihres sich wandelnden Verhältnisses zu ihrem eigenen Land, der DDR.
Zusätzliches literarisches Material
In dieser Verdichtung liegt der Erkenntnisreiz des Buches, das neben Christa Wolfs Reisetagebüchern auch zahlreiche Materialien aus ihrem literarischen Werk und ihrer Korrespondenz enthält, die den gesamten sowjetischen Erfahrungskontext der Schriftstellerin umfassen. Gerhard Wolfs Absicht ist es offensichtlich, die Bedeutung zu illustrieren, welche die russische Kultur, die Freundschaft mit russischen Schriftstellern, allen voran Lew Kopelew, Efim Etkind und Juri Bondarew, in Christa Wolfs Denken, Leben und Schreiben einnahmen.
Er selbst kommentiert diejenigen der Moskaureisen, bei denen er seine Frau begleitete, aus eigener Sicht, lässt auch die Stimmen anderer Schriftstellerkollegen wie Brigitte Reimann und Max Frisch zu Wort kommen, die gemeinsam mit Christa Wolf nach Moskau eingeladen worden waren. Aus dieser Fülle ergibt sich ein reiches Bild der literarischen Ost-West- Beziehungen, die sich von den fünfziger bis zu den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entspannen. Aber diese Fülle trägt auch dazu bei, dass der eigentliche Textkern des Bandes, die Tagebücher Christa Wolfs, ein wenig in den Hintergrund rückt.
Es ist beispielsweise nicht ganz einsichtig, weshalb auch Lew Kopelews lange Verteidigungsschrift aufgenommen wurde, mit der er Christa Wolf vor den Attacken gegen ihre 1990 veröffentlichte Erzählung "Was bleibt" in Schutz nahm. Zu Christa Wolfs Moskauer Erfahrungen trägt diese Schrift nichts bei. Sie scheint eher der Intention zu dienen, die westliche Sicht auf die Schriftstellerin mit einer östlichen zu konterkarieren.

Christa Wolf: "Moskauer Tagebücher"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
264 Seiten, 22,95 Euro

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