Christentum und Politik

Von Rolf Schneider |
Das Verhältnis von Christentum und Politik erweist sich als hochproblematisch von Beginn an, behängt mit vielerlei Widersprüchen und Irrtümern. Bereits der österliche Einzug des Religionsstifters Jesus in Jerusalem unterlag dem Missverständnis, dieser Mann wolle, statt zu predigen und zu missionieren, vielmehr neuer König der Juden sein. Prompt fühlte sich die römischer Kolonialmacht und das mit ihr kollaborierende pharisäische Establishment herausgefordert. Man ließ den Störenfried festnehmen, verurteilen und hinrichten.
Als eine Glaubenslehre, die, modern gesprochen, Gewaltlosigkeit und Pazifismus vertrat, wirkte das Christentum auch fürderhin politisch subversiv. Die Umwelt mochte nicht wahrhaben, dass die junge Religionsgemeinschaft sich bloß auf das nahe Weltende einstellte; als dies nicht eintrat, musste sie sich zu weiteren Normen für das irdische Leben entschließen, und spätestens, als Kaiser Konstantin das Christentum zur römischen Staatsreligion erhob, war die Lehre des Gekreuzigten gänzlich im Raum der Politik angekommen.

Die Folgen sind bekannt. Evangelien und Apostelbriefe stellten genügend Aussagen bereit, die sich politisch interpretieren und anwenden ließen, wie sehr sie einander ausschließen mochten. Die im Zeichen des Kreuzes geführten Erschütterungen und Kriege prägten zwei Jahrtausende abendländischer Geschichte; immer wieder auch gab es Versuche, zu der vermeintlich reinen Lehre zurückzukehren, was seinerseits Verfolgungen auf sich zog.

Die Ansätze, politisches Verhalten christlich zu prägen oder christlich zu rechtfertigen, führen von Martin Luthers "Zwei-Reiche-Lehre" über den Sonnenstaat lateinamerikanischer Jesuiten bis zur Sozialethik des katholischen Priesters Adolf Kolping und zur Theologie des evangelischen Hochschullehrers Karl Barth. Mehr als angestrengte Versuche sind sie allesamt nicht, kompatibel sind sie auch nicht. Die Einsicht, dass es eine eindeutig christliche Politik so wenig gibt wie christliche Bilddarmoperationen, dass es sie nicht gaben kann, da die Botschaft der Evangelien immer bloß von einem Reich handelt, welches von dieser Welt nicht ist, dies alles hat sich erst sehr spät durchgesetzt, im Gefolge einer immer fortschreitenden Säkularisierung.

Die Leute, die sich derzeit um ein neues CDU-Programm bemühen, scheinen dies zu wissen. Sie bemühen als wesentliches Moment das christliche Menschenbild. Was sie darunter verstehen, bleibt einigermaßen unklar. Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung hat sich in einem Text daran versucht.

Ich zitiere: "Der Mensch erscheint einerseits in seiner Kreatürlichkeit, das heißt als einer, der sich in seiner Herkunft dem schöpferischen Handeln Gottes verdankt und in seiner Vergänglichkeit den übrigen Geschöpfen gleicht. Andererseits erscheint er kraft seiner Begabung mit Freiheit und Vernunft in seiner Kreativität, die ihn über die übrige Schöpfung erhebt und an der schöpferischen Kraft Gottes teilhaben lässt." So weit das Zitat.

An zentraler Stelle wird noch der Aufklärer Immanuel Kant zitiert. Überhaupt reproduziert dieser Text, etwas deistisch überzuckert, das Menschenbild der Aufklärung, die eigentlich eine antiklerikale Erfindung war.

Einen anderen Versuch unternahm 2001 die einflussreiche Diözese München-Freising, die ein Papier verabschiedete, das praktische Vorschläge für die Kommunalpolitik unterbreitete. Da ist im Zusammenhang mit dem christlichen Menschenbild von Freiheits- und Menschenrechten die Rede, von Begabung zur Selbstreflexion, zu planender Vorschau, von Toleranz, von Gewissens- und gar von Religionsfreiheit.

Die Wahrheit ist, dass eine einheitliche christliche Anthropologie nicht existiert. Es gibt deren viele: bei den Kirchenvätern, bei den Mystikern, bei Søren Kierkegaard; manchmal decken sie sich, meist widersprechen sie einander. Das Neue Testament begreift den Menschen als ein zutiefst schwaches, sündiges und erlösungsbedürftiges Wesen. Daraus attraktive Parteiprogrammatik für das Jahr 2006 zu keltern, scheint schlechterdings unmöglich.

Die CDU begnügt sich deswegen, Strukturen und Inhalte zu propagieren wie Familie, Kindererziehung, innere Sicherheit, Privatbesitz und Rechtsstaatlichkeit, die sich gewiss christlich interpretieren lassen, doch dies nicht zwingend und keinesfalls ausschließlich. Vielmehr sind sie so, wie die CDU sie vertritt, tradierte und gesellschaftlich bewährte, eben konservative Einrichtungen, und es wäre vernünftig, würde die Partei es genau so und nicht anders mitteilen.

Mit dem C des Parteinamens hat das alles bloß partiell zu tun. Das C des Parteinamens ist, freundlich formuliert, nur mehr Traditionssymbol und Leerformel, sofern man es nicht als das begreift, was einer der gegenwärtigen Unionspräsiden in anderen Zusammenhängen eine Lebenslüge nannte.

Mit Lebenslügen hat die Partei ihre Erfahrung. Wider besseres Wissen und gegen alle Wirklichkeit behauptete sie bis noch in allerjüngster Zeit, Deutschland sei kein Einwandererland. Lebenslügen, das wissen wir aus den Dramen Henrik Ibsens, münden in Katastrophen. Könnte sein, die Identitätskrise der CDU gründet auch auf den Umstand, dass die Partei weiterhin mit dem C in ihrem Namen operiert?

Rolf Schneider stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem zuvor mit elf Schriftstellerkollegen in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen u.a. "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Rolf Schneider schreibt gegenwärtig für eine Reihe angesehener Zeitungen und äußert sich insbesondere zu kultur- und gesellschaftspolitischen Themen.