Johann Hinrich Claussen, Martin Fritz, Andreas Kubik, u.a.: "Christentum von rechts. Theologische Erkundungen und Kritik"
Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2021
232 Seiten, 19 Euro
Konservative Theologie im Kampfmodus
15:34 Minuten
Viele Stimmen der neuen Rechten beschwören ein christliches Abendland. Das ist nicht nur Instrumentalisierung des Glaubens, sagt der Theologe Martin Fritz. Rechte Christen greifen altbekannte konservative Theologie auf, nur ins Aggressive gewendet.
Kirsten Dietrich: In Sachen erstarkender Rechtsextremismus wähnten die Kirchen sich lange auf der sicheren Seite. Man verurteilte Auswüchse der entsprechenden politischen Verantwortlichen. Es gab in einigen Kirchen Unvereinbarkeitsbeschlüsse: Wer in der AfD ist, kann nicht im Kirchenvorstand sein, zum Beispiel. Und doch wird immer klarer: Das reicht nicht.
Brückenschlag zur neurechten Bewegung
Es gibt eben auch kirchliche Gruppen, die mit ihrer Art des Glaubens die Brücke schlagen zu Akteuren im rechtsextremen Spektrum und in der neurechten Bewegung, die versucht, Positionen jenseits des Konservativen salonfähig zu machen, ohne gleich mit klassisch nationalsozialistischen Gedanken in Verbindung gebracht zu werden. In dieser "neuen Rechten" also spielt der Bezug aufs Christliche durchaus eine Rolle. Aber was für ein Christentum wird dort propagiert? Damit hat sich der evangelische Theologe Martin Fritz beschäftigt.
Herr Fritz, in einem Aufsatz im Sammelband "Christentum von rechts" untersuchen Sie theologische Grundmotive der christlichen Rechten in Deutschland. Das heißt, es geht Ihnen nicht um absolute Abgrenzung im Sinne von "Wir als Kirche stellen uns entschieden gegen jede Art von Rechtsextremismus", sondern es geht Ihnen um das tiefere Verstehen. Warum ist das so wichtig?
Martin Fritz: Na ja, grundsätzlich ist natürlich Verstehen immer gut, auch zu verstehen, was für Dynamiken eine Rolle spielen in solchen Prozessen der Radikalisierung von bestimmten Christen. Damit ist auch schon die These angesprochen: Meines Erachtens handelt es sich im Grunde um ein konservatives Christentum, das sich aufgrund bestimmter Polarisierungs- und Marginalisierungsprozesse radikalisiert in Richtung populistische neue Rechte.
Und auch um diese Radikalisierungsprozesse künftig zu unterlaufen, schwerer zu machen oder zu verhindern bei manchen konservativen Christen, lohnt es sich zu verstehen, was da für Anliegen, Affekte, Motive dahinterstehen.
Ausgrenzung im Namen altbewährter Ordnung
Dietrich: Dann schauen wir uns das mal genauer an. Sie stellen fünf Schwerpunkte dieses neurechten Christentums fest, ich nenne sie kurz. Das ist: zu bewahren, realistisch zu denken, patriotisch zu sein, wehrhaft zu sein und ohne Zweifel zu sein. Gehen wir die mal genauer durch.
Der erste Punkt: Es geht diesen Neurechten um das Bewahren der Ordnung. Das finde ich ganz aufschlussreich, es geht eben nicht um Gottes gute Schöpfung, das klingt viel zu sehr nach Umweltschutz und Klimagerechtigkeit, sondern um Gottes gute Ordnung. Alles und jeder hat also schon den richtigen Platz von Gott gegeben. Warum ist das ein schwieriges Konzept?
Fritz: Zunächst mal ist es ja ein ganz reizvolles Konzept, denn wenn alles seine Ordnung hat, dann gibt es einen grundsätzlichen Bestand, dann bleibt alles so, wie es ist. Und dann bleiben die bewährten, altbewährten Regeln, Werte und Ordnungen eben erhalten. Das ist so ein konservatives Grundanliegen, dass zunächst einmal ja verständlich ist.
Problematisch ist das insofern, als mit der Festschreibung von bestimmten Ordnungen natürlich alle diejenigen, die diesen Ordnungen nicht automatisch entsprechen, außerhalb der Ordnung zu stehen kommen, dass die diskreditiert werden, dass ihnen die Freiheit, sich die eigenen Lebensordnungen auch zu suchen und sie zu wählen, abgesprochen wird.
Mit Anspruch auf Realismus gegen moralische Ideale
Dietrich: Ein anderer Aspekt ist der, dass neurechte Gläubige für sich in Anspruch nehmen, in ethischen Konflikten ganz realistisch zu sein. Sie wollen Verantwortungsethik statt Gesinnungsethik, sie wollen die konkrete Situation im Blick haben, nicht den Kopf in den Wolken. Das äußert sich dann in der Kritik an zu viel Politisierung, zu viel Menschenrechten, zu viel Entwicklungspolitik – also Kritik zum Beispiel am Engagement der Evangelischen Kirche in Deutschland für die Flüchtlingsrettung im Mittelmeer.
Fritz: Zunächst: Die Unterscheidung von Verantwortungsethik und Gesinnungsethik stammt vom Soziologen Max Weber aus einer bestimmten, berühmten Rede, "Politik als Berufung", von 1919. Die ist also gar nicht von vornherein irgendwie rechts konnotiert, sondern das ist auch zunächst mal gegenüber der Differenzierung von links und rechts ganz neutral.
Die Unterscheidung hat das Anliegen, sich einer ideologisch werdenden Ethik, auch Liebesethik, radikalen Auslegungen der Bergpredigt, zu erwehren und zu sagen: In der Politik kann das Evangelium, kann die Bergpredigt, das jesuanische Liebesgebot nicht unmittelbar zum Einsatz kommen, sondern es sind immer komplexe Probleme.
Jedes Gesetz, jede Regelung, jede politische Handlung hat Nebenwirkungen, da muss man im Einzelnen sehr genau schauen, was dann insgesamt an Konsequenzen herauskommt. Man muss auch die Folgen sehen und nicht nur das Gesinnungsprinzip. Das ist eine Grundsatzaussage von Max Weber, die ich auch eigentlich vernünftig finde zunächst mal.
Dieser Topos wird von den neurechten Christen gegen eine moralisierende, universalistische Ethik insbesondere der EKD-Leitung ins Feld geführt: Entweder sollen sich die Kirchen radikal aus der Politik heraushalten, oder etwas differenzierter: Sie sollen sich nicht einbilden, dass bestimmte ethische Prinzipien des Christentums unmittelbar politisch zum Einsatz kommen können.
Ein klassisches Beispiel ist natürlich die Flüchtlingspolitik, aber auch vor allem die Flüchtlingskrise 2015, wo ja Angela Merkel tatsächlich das Motiv der Barmherzigkeit angesprochen hat als Motiv des politischen Handelns. Da sagen die rechten Christen, es wäre verantwortungsethisch klüger gewesen, dieses liebesethische Motiv für sich zu behalten und die Grenzen dicht zu machen, weil die Konsequenzen dieses Handelns für das Land Deutschland so fatal sind.
Der missverstandene Turmbau zu Babel
Dietrich: Ein weiteres Kennzeichnen, das geht in eine ähnliche Richtung des neurechten Christentums. Sie sagen, es will patriotisch sein, es zielt auf das Volk ab, nicht auf den humanistischen oder allgemeinen Begriff der Menschheit.
Fritz: Auch das ist zunächst ja ein ganz konservatives Grundmotiv, dass das eigene Land, die Heimat, das eigene Volk in der Politik und überhaupt in der Ethik eine Rolle spielen darf und soll als eine Bezugsgröße. Auch das ist ja ein vernünftiges Grundmotiv. Ein Staat, der nicht irgendwie ein Volk definiert und eine Nation definiert, der kann ja gar nicht mehr handeln, weil er keine Bezugsgröße mehr hat, für wen die Gesetze gelten. Heimatgefühle sind ja auch linken Menschen nicht fremd, dass man sich an einem bestimmten Ort heimisch fühlt, wo man herkommt.
Warum spielt das bei den rechten Christen eine Rolle? Religiöse Motive spielen da schon rein, man sagt: Gott hat die Welt so geschaffen, dass es darin vielerlei Völker gibt, die unterschiedliche Charaktere haben. Und diese Vielheit soll gewahrt bleiben, auf dass nicht alle Völker, alle Nationen gleich sind am Ende.
Aber dann kommt eben dieser Schöpfungsgedanke wieder als ein theologisches Argument: Gott hat die Welt so geschaffen – das ist dann zum Teil auch unfreiwillig etwas komisch, wenn man sich da auf den Turmbau von Babel bezieht, der ja in der Bibel tatsächlich keine Schöpfungsordnung beschreibt, sondern eben lange nach der Schöpfung ist und eben eine Strafordnung Gottes ist - dass es eine Vielzahl von Sprachen und Völkern gibt.
"Wehrhaftes Christentum" als Gegenentwurf zum Islam
Dietrich: Man muss auch ergänzen: Diese Vielzahl von Völkern, die ja in der neuen Rechten durchaus gepriesen werden, die sollen natürlich schön alle an diesem Platz bleiben, wo sie gerade sind, das sollen keine wandernden Völker sein. Ein letzter Punkt noch: Das neurechte Christentum soll wehrhaft sein, vor allem gegenüber dem Islam als Feindbild das christliche Abendland zu verteidigen.
Fritz: Das ist vermutlich der Punkt, wo man bei der Lektüre der einschlägigen Texte auch am meisten schlucken muss, weil da auch mit wirklich krassen, einseitigen Feindbildern argumentiert wird. Da wird wirklich der Islam als der Feind des europäischen Christentums geradezu beschworen. Da wird es dann zum Teil schon unappetitlich.
Auch hier wird man ein quasi verständliches Moment herauskristallisieren können, nämlich eben die Überzeugung, dass eine Vermischung von Religionen – ich würde sagen, die ist unvermeidlich, hat ja auch längst stattgefunden, mit der muss man irgendwie umgehen – Probleme mit sich bringt.
Ein konservativer Islam kommt zum Teil mit anderen Vorstellungen des Geschlechterverhältnisses zu uns ins Land, damit muss man dann irgendwie produktiv umgehen. Diese Pluralisierung ist, würde ich sagen, hinzunehmen, die religiöse Pluralisierung, aber sie macht eben manchen auch aus verständlichen Gründen Angst.
Dann versucht man durch solche Ideen von europäischem Abendland, das sich gegenüber dem Islam vom Osten her abschottet, dann irgendwie ein Pathos der Verteidigung abzugewinnen, just durch diese Abgrenzung die eigene europäisch-christliche Identität zu verstärken.
Im Modus des Kulturkampfs
Dietrich: Sie haben es schon ein paar Mal gesagt, all diese Punkte sind eigentlich keine neuen Ideen, das sind alles letztlich konservativ theologische Aussagen. Warum bekommt das dann trotzdem in der neurechten Bewegung so einen Drive und geht über das hinaus, was man als sehr konservative oder sehr fromme Theologie oder einen sehr frommen Glauben bezeichnet, und bekommt so einen anderen Einschlag?
Fritz: Das fand ich den interessantesten Punkt bei der Beschäftigung mit diesem Feld, dass der Eindruck entsteht: In den Grundmotiven ist es im Grunde Konservativismus. Der ist verschärft, der ist populistisch verschärft oder irgendwie im Modus des Kulturkampfes.
Und ich kann mir das im Grunde nur psychologisch erklären, auch geistesgeschichtlich. Es hat seit einer Zeit - ein Schlüsseljahr, dass da oft genannt wird, 1968 - es hat in Deutschland, in Europa eine massive Liberalisierung von Lebensverhältnissen stattgefunden, eine Pluralisierung stattgefunden, auch durch die Migration eine religiöse Pluralisierung.
Mein Eindruck ist, dass man sich mit konservativen Positionen zum einen marginalisiert fühlt, dass man sich zum Teil auch moralisch diffamiert fühlt und aus dieser Stellung, quasi sich mit dem Rücken zur Wand zu fühlen, daraus resultiert diese Aggressivität.
Liebesgebot auf den Nahbereich beschränkt
Dietrich: Aber das Ganze klingt ja vielleicht im Vokabular christlich, es ist aber ja im Prinzip doch weitgehend entkernt. Wenn grundsätzliche Dinge wie das Liebesgebot gar nicht mehr Anwendung finden, dann bleibt ja eigentlich von dem utopischen Kern des Christentums, der gerade über das Alltägliche hinaustreibt, gar nicht mehr viel übrig. Was setzt sich dann an diese Stelle bei den neurechten Christen?
Fritz: Da würden die Neurechten natürlich widersprechen und sagen: Wir entkräften das Liebesgebot nicht, wir grenzen das ein auf den Nahbereich, auf den individuellen Bereich des Lebens, da sollte es durchaus seinen Raum haben, aber es soll im Sozialethischen und Politischen nicht überbewertet werden. Und darüber kann man ja auch streiten, wie das Liebesgebot im Politischen zur Anwendung kommen kann, das ist ein sehr schwieriges Feld.
Aber ich würde Ihrer Tendenzdiagnose schon zustimmen. Es wird zurückgestuft, das Liebesethos, es wird das Universalistische zurückgestuft, um - das ist einer der Kernaspekte - das Eigene wieder zur Geltung zur bringen. Das ist eben ein rechtsidentitäres Grundmotiv, das sich hier geltend macht.
Und: Nicht alles auf einmal verändern, sondern irgendwie beim Bestehenden bleiben, beim Bewährten, dieses konservative Grundmotiv, diese beiden Momente, würde ich sagen, sind die Dinge, die da überdominant werden.
Christentum mit konservativen Grundmotiven
Dietrich: Was würden Sie sagen, ist das noch Christentum?
Fritz: Jedenfalls würde ich diesen Leuten nicht das aufrechte religiöse Interesse absprechen. Manchmal mag man dieses Christliche eher zum Schein und zur Verstärkung der eigenen politischen Ambitionen zum Einsatz bringen. Aber ich würde nicht grundsätzlich sagen, dass es sich hier um eine Instrumentalisierung von Religion handelt.
Ich glaube, es gibt da schon aufrechtes Ringen um ein Christentum, das mit diesen konservativen Grundmotiven zu verbinden ist. Zum Teil wird es dann so aggressiv und so polemisch und werden Grundmotive wie Sanftmut, Demut, Liebe, Barmherzigkeit so sehr zurückgestuft, dass man sich schon fragen kann, ob das noch im Geiste Jesu zu rechtfertigen ist.
Dietrich: Ihr Befund, das finde ich interessant, deckt sich mit einer Untersuchung der Universität Münster. Die hat vor Kurzem in mehreren europäischen Ländern Identitätskonzepte untersucht und dabei polare Gruppen der Verteidiger und Entdecker gefunden. Was man da, in dieser Untersuchung, den Verteidigern zuschreibt – sie sind traditionell, sind bewahrend, zurück zu den viel beschworenen Wurzeln – das hat ja doch eine große Gemeinsamkeit mit dem, wie Sie neurechtes Christentum beschreiben.
Bezug auf Tradition und eine heilige Schrift
Was ich als Herausforderung dabei wahrnehme, ist, dass genau diese eher konservative, wirklich rückwärts gerichtete Gruppe eigentlich die einzige ist, die sich auf lange Sicht überhaupt noch für religiöse Themen im traditionellen, also auch im kirchlichen Sinne ansprechen lässt. Das heißt doch eigentlich für Theologie und Kirche: Sie muss diese neurechten Positionen bitter ernst nehmen, denn da sitzt ihr zukünftiges Klientel.
Fritz: Was die Kirche machen muss, ist, dass sie das konservative Klientel ernst nimmt, nicht unbedingt die schon radikalisierten, populistisch neuen Rechten. Wie man mit der umgeht, ist eine Frage für sich. Entscheidend ist, dass man die Konservativen nicht unnötigerweise vergrault, dass man sie ernst nimmt, dass man sie nicht diffamiert, nur weil sie, wie Sie das gesagt haben, rückwärtsgewandt sind.
Das ist ein Grundproblem bestimmter Religionen, unter anderem des Christentums, dass sie sich auf eine Tradition, auf eine alte Zeit, auf eine alte Schrift beziehen, also auf eine Vergangenheit beziehen, die irgendwie eine normative Bedeutung hat. Und aus diesem Bezug auf die Vergangenheit resultiert eine gewisse Rückwärtsgewandtheit in jedem Christentum.
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