Christenverfolgung im Irak

Martin Tamcke im Gespräch mit Stephan Karkowsky |
Der ökumenische Theologe Martin Tamcke beklagt, dass sich die Lage der Christen im Irak seit dem Einmarsch der US-Truppen 2003 deutlich verschlechtert habe. Viele Iraker sähen in den Christen eine "Fünfte Kolonne des Westens" und ergriffen Maßnahmen gegen sie.
Stephan Karkowsky: Besonders im Irak steht die christliche Minderheit derzeit unter Druck. Seit dem Massaker in einer Kirche in Bagdad reist die Serie von Anschlägen gegen Christen nicht ab. Der ökumenische Theologe Professor Martin Tamcke soll uns davon berichten. Er ist zugleich orientalischer Kirchen- und Missionshistoriker und kennt sich daher aus mit "Christen in der islamischen Welt", so heißt auch eines seiner Bücher. Guten Morgen, Herr Tamcke!

Martin Tamcke: Guten Morgen, Herr Karkowsky!

Karkowsky: Sprechen wir zunächst über den Irak: Haben Sie Kontakt zur dortigen christlichen Gemeinde?

Tamcke: Ja, wir haben Kontakte zu unterschiedlichen christlichen Gemeinden. Ich treffe mich natürlich regelmäßig bei verschiedenen Anlässen mit den Kirchenführern aus den verschiedenen Kirchen. Aber es geht auch über Hilfsorganisationen und direkte Kontakte von Irakis mit mir.

Karkowsky: Und was erfahren Sie aus dem Irak über die aktuelle Lage?

Tamcke: Das ist sehr wenig erfreulich, was in der letzten Zeit zu hören ist. Es hat sich schon angebahnt mit dem Einmarsch der Amerikaner, dass die Situation der Christen deutlich sich verschlechterte, zum einen, weil viele der irakischen Bewohner die Christen in ihrem Land dafür verantwortlich machen, dass sie sozusagen als die fünfte Kolonne des Westens im Land agieren würden, aber zum anderen auch, dass da ein Prozess eingesetzt hat, der deutlich stärker islamisierende Tendenzen hatte als je zuvor.

Karkowsky: Und was meinen Sie, wer nun hinter den Anschlägen steckt? El Kaida sagt, wir sind es, oder ist das bereits eine Welle, die in der Bevölkerung eine viel breitere Basis hat?

Tamcke: Also bei der alltäglichen Gewalt ist es deutlich eine breitere Basis, das kann man erkennen daran, dass es viel Familien betrifft, dass Lösegelder erzwungen werden, dass das alltägliche Leben des Zur-Schule-Gehens, des Miteinanders beim Einkaufen, wie die Familien bedrängt werden, mit welchen Schriften sie konfrontiert werden, dass ihnen gesagt wird, also wenn du nicht morgen aus dem Haus bist ...
Das sind nicht einfach alles nur geplante Aktionen von Organisationen der El Kaida. Aber trotzdem muss man natürlich sagen, dass diese Organisationen diese Stimmung in der Bevölkerung deutlich anheizen.

Karkowsky: Würden Sie denn hier von einer regelrechten Christenverfolgung im Irak sprechen?

Tamcke: Ich mag das Wort zwar nicht, aber man müsste es wohl heute so benennen.

Karkowsky: Und wie war das früher: Hat der Irak eine Tradition der Toleranz eher unter den Religionen, oder mussten Christen in einem ihrer Urländer schon immer um ihr Leben fürchten?

Tamcke: Der Irak kennt beides. Er kennt Phasen ständiger Verfolgung, das setzt schon ganz früh, im 3. Jahrhundert ein, als der persische Großkönig, der damals sein Machtzentrum im Irak hatte, die ersten großen Verfolgungen gegen die Christen in Szene setzte. Auch damals übrigens schon mit dem Ziel, dass die Christen als sozusagen fünfte Kolonne, damals des Römischen Reichs, betrachtet wurden. Und da das Römische Reich christlich geworden war, reagierte man im Persischen Reich darauf mit Verfolgung.

Das hat dann immer Wechsel gegeben, der moderne Irak nach dem Ersten Weltkrieg, der ist davon dann gekennzeichnet gewesen, dass mit Ausnahme der Assyrer, die schon in den 30er-Jahren einmal massiv verfolgt worden sind, eigentlich eher eine Phase, je säkularer der Irak war, auch der besseren Situation der Christen kannten. Die regierende Partei ist von einem Christen mitgegründet worden, die Saddam Hussein an die Macht gebracht hatte. Und diese Rolle der Christen im Irak und überhaupt in vielen der vorderorientalischen Länder – man denke daran, dass im Nachbarstaat Syrien der erste Ministerpräsident ein Christ war –, das ist heute natürlich gar nicht mehr so denkbar.

Karkowsky: Dann würden Sie sagen, dass der Schutz der Christen selbst unter der Diktatur Saddam Husseins besser war als heute?

Tamcke: Ja.

Karkowsky: Aber das ist sicherlich nicht etwas, was die Christen sich zurückwünschen?

Tamcke: Nein, die wünschen sich nicht die Diktatur zurück. Natürlich sehnen sich zuweilen etwas unrealistisch und dabei überschauend, was auch Saddam Hussein angerichtet hat besonders im Norden unter den christlichen Dörfern, etwas wehmütig zurück, weil diese totale Rechtlosigkeit dadurch, dass dieses Mal ein nicht auszumachender Feind ihnen gegenübersteht, macht die Menschen natürlich ohnmächtiger und hilfloser als je zuvor. Das ist eine Gewalt, gegen die man sich eigentlich nicht wehren kann.

Karkowsky: Wie groß ist die Bedeutung des Iraks für die Christenheit?

Tamcke: Historisch ist sie sehr groß. Es ist das Zentrum des Christentums außerhalb der römischen Welt, und damit das Beispiel für ein Christentum, das ohne Macht und Staat über die Jahrhunderte sich erhalten hat. Es hat sich ausgebreitet bis nach China und Südostasien hinein, alles ging von dieser Region aus. Schon sehr früh hat man dort Hochschulen entwickelt im Milieu, wo auch die Juden eigene Akademien hatten, das ist einmalig in der Weltgeschichte der Christenheit.

Karkowsky: Haben Sie den Eindruck, dass die Regierung sich stärker engagieren müsste für die Christen?

Tamcke: Deutlich. Maliki war zwar dann in der Kirche und hat auch gezeigt, dass er für die Christen etwas tun möchte, aber da jedermann weiß, dass die Christen sozusagen im Moment das Ventil sind oder der Sündenbock, auf den sich alle versuchen freizuschaufeln von dem, was sie an schlechten inneren Empfindungen haben, bedürfte eines wesentlich größeren Schutzes und vor allen Dingen einer viel größeren Vermittlung an die Bevölkerung, welche Funktion und welchen Reichtum diese Christen in ihrer Gesellschaft haben.

Karkowsky: Und von all dem, was Sie hören auch gerade von Freunden im Irak, von christlichen Gemeinden, glauben Sie daran, dass jetzt wirklich der ganz große Exodus beginnt und der Irak vielleicht komplett christenfrei wird?

Tamcke: Jedenfalls haben wir einen so enormen Aderlass, dass schon jetzt die Frage ist, was denn in der Zukunft die Christen im Irak sein können. Ich mag es nicht denken, dass es zum endgültigen Aderlass kommt, weil nur die Christen halten den Irak davon frei, ausschließlich in diese beiden großen islamischen Blöcke zu zerfallen, die auch miteinander nicht im Frieden stehen.

Karkowsky: Wir sprechen im Radiofeuilleton mit dem Göttinger Theologen Martin Tamcke. Herr Tamcke, auch in der Türkei gibt es ja immer mal wieder Anschläge auf Christen. Dafür sollen aber in der Regel nicht Islamisten verantwortlich sein, sondern eher radikale Ultranationalisten. Können Sie das bestätigen?

Tamcke: Also, wenn man sich anschaut, bei einzelnen dieser Straftaten, etwa der Ermordung von Hrant Dink oder auch bei denen in Malatya, bei den protestantischen Pfarrern, dann hat man schon den Eindruck, dass es Nationalisten, Ultranationalisten sind. Allerdings muss man auch feststellen, dass in den Diskussionen mit sehr radikalisierten Islamisten in der Türkei auch diese eine außerordentlich ambivalente bis schwierige Haltung zum Christentum haben. Besonders zu den Christen, die in der Türkei als Angehörige der Armenier weiterhin leben. Die Armenier bilden immer aufgrund des ungelösten Völkermordsanspruchs, den die Armenier haben, dass er anerkannt werden möge als ein Völkermord, was die Türken im Ersten Weltkrieg mit ihnen gemacht haben, immer unter Generalverdacht.

Karkowsky: Teilen Sie denn die Auffassung, dass sich unter der islamisch-konservativen Regierung Erdogan die Lage der Christen in der Türkei doch eher verbessert hat?

Tamcke: Das ist eine ganz schwer zu beantwortende Frage. Auf der einen Seite gibt es eindeutig erkennbare Verbesserungen oder Zeichen in Richtung auf Verbesserung. Zuletzt etwa das Angebot der türkischen Regierung, dass einige Bischöfe der Griechisch-Orthodoxen die türkische Nationalität erhalten dürften, was eine zentrale Frage der griechisch-orthodoxen Kirche in der Türkei lösen würde, denn nur türkische Staatsbürger dürfen höhere Ämter in dieser Kirche in der Türkei wahrnehmen und etwa den Patriarchen stellen. Es zeigt auch, dass diskutiert wird, ob man das Priesterseminar der griechisch-orthodoxen Kirche dieser zurückgeben könnte und es wiedereröffnet werden dürfte, was seit Jahrzehnten, seit Anfang der 70er-Jahre geschlossen wurde.

Andererseits haben wir Signale, die deutlich; mindestens eine Ambivalenz erkennbar machen. Und da muss man sagen, die Prozesse gegen alle diese Straftäter werden verschleppt oder finden keinen vernünftigen Ausgang. Es wird nirgends sichtbar, dass bei konkreten Übergriffen der Staat entschieden handelt und auch seinerseits fördert, dass die Christen ihren Platz in der türkischen Gesellschaft finden.

Karkowsky: Nun sagen Kommentatoren, dass die islamisch-konservative Regierung ein Interesse daran habe, dass die Christen mehr Freiheiten bekommen in der Türkei, allein schon aus dem Grund, weil sie nicht einverstanden sind mit der Situation, in einem laizistischen Staat zu leben. Das ist nachvollziehbar, oder?

Tamcke: Ja, das ist so. Ich denke, die Gesamtentwicklung des türkischen Staates geht in diese Richtung. Dort muss man aber sehr vorsichtig sein, das kommt auf der einen, einerseits daher, dass die staatstragenden Kräfte mit der säkularen Idee mittlerweile eine Entwicklung durchgemacht haben, die sie nicht unbedingt Demokraten sein lassen in der Gegenwart. Das betrifft auch die ehemals staatstragende Partei der CHP. Andererseits ist in diesem Neuaufbruch in der Türkei, der auf eine stärkere religiöse Durchdringung auch des Staates zielt, sind Elemente vorhanden, die deutlich nicht von Toleranz geprägt sind und deutlich nicht eine Partnerschaft mit den anderen Religionen als gleichwertige Religion in der Türkei wähnen können.

Karkowsky: Aber verglichen mit anderen überwiegend muslimischen Ländern – gerade speziell jetzt der akuten Situation im Irak – lebt man als Christ in der Türkei relativ sicher, oder?

Tamcke: Relativ, relativ ja.

Karkowsky: Über die oft schwierige Lage von Christen als Minderheit in islamischen Ländern hörten Sie den Göttinger Theologen Martin Tamcke. Er ist Autor des Buches "Christen in der islamischen Welt". Herr Tamcke, vielen Dank für das Gespräch!

Tamcke: Vielen Dank; auf Wiederhören!
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