Christian Arndt: "Electronic Germany"

"Frankfurt war die erste Techno-Hauptstadt"

August 1995: Tanzende Techno-Fans im Theater-Tunnel in der Frankfurter Innenstadt
Techno: ehemals revoltierende Musik, inzwischen auch schon Geschichte. © picture-alliance / dpa / Fotoreport / Zucchi
Von Martin Risel |
Ehe es in Berlin in den 90er Jahren so richtig losging, brummte und wummerte es bereits in Frankfurt am Main. In "Electronic Germany" würdigt Christian Arndt die Main-Metropole als Wiege der deutschen und internationalen Technokultur.
Der titelgebende Track stammt von DJ Hell und Anthony Rother – zwei Musikern aus Westdeutschland. Der eine kommt aus München, der andere aus Frankfurt am Main. Und das ist kein Zufall.
Denn der Kulturwissenschaftler Christian Arndt rüttelt mit seinem Werk "Electronic Germany" an den Grundpfeilern der Techno-Geschichtsschreibung. Dass allein der Club Tresor im Nachwende-Berlin und die DJs aus Detroit der Technokultur den Weg geebnet haben sollen, will er so nicht stehen lassen:
"Es gab so viele Vorväter von Techno, dass ich’s ein bisschen einseitig und mittlerweile auch langweilig finde, immer nur auf dieser Detroit-Tastatur zu spielen. Und das ist vielleicht ein kleiner Gegenentwurf."
Die Schweizer Yello zählt das Buch zu den Vorvätern von Techno, auch frühe Italo-Disko- und New Yorker House-Platten. Das ist sicher nicht von der Hand zu weisen. Zu wenig beachtet ist aber auch der frühe Einfluss der belgischen Technoszene.

Berlin war erst später die Nummer eins

Christian Arndt aus Frankfurt am Main setzt noch eine gewagte These drauf – gestützt von dortigen Musikern wie Chris Liebing.
"Sicherlich war Frankfurt für mich prägend. Ich bin nicht so vermessen zu sagen, es ist das Wichtigste und Beste. Aber es ist zu kurz gekommen. Viele werden überrascht sein, besonders in Berlin: Eigentlich war Frankfurt die erste Techno-Hauptstadt der Republik. Allerdings nur für wenige Jahre, bis dann Berlin dank des Mauerfalls die Oberhand gewonnen hat."

Chris Liebing: "Viele Impulse, was von Labels, von Produktionen von Studios herrührt, das kam alles eigentlich aus Frankfurt. Und ich nehme jetzt mal Gießen auch dazu, weil aus Gießen kam schon 'ne Runde von Leuten, die heute alle noch sehr aktiv sind und die es dann alle nach Frankfurt verschlagen hat. Aber mittlerweile spielt es nicht mehr so 'ne Rolle."
Techno DJ Chris Liebing
Techno DJ Chris Liebing: Impulse aus Frankfurt und Gießen© (c) Christian Arndt
Chris Liebing ist neben Sven Väth DER Techno-Weltstar aus Frankfurt.
Im Buch wieder zu finden: die dort längst geschlossenen Clubs Dorian Gray und Omen, der verstorbene Mark Spoon und der immer noch großartig produzierende Ralf Hildenbeutel. Bejammert wird der damalige "brain drain" nach Berlin.
Andere Bücher werden sicher noch die Bedeutung von Hamburg oder Köln für die Techno-Geschichte in den Fokus rücken. Gut so, erst aus der Vielfalt ergibt sich das ganze Bild, nicht aus der Berliner Blase.

Im Buch stammen die Fotos vom Frankfurter Ernst Stratmann: Mal gelungen als Kunst im Großformat, oft aber ohne Relevanz und Aussagekraft.
DJ Sven Väth heizt 1996 bei einer Großparty in einem gesperrten Straßentunnel in Frankfurt den Techno-Fans ein.
DJ Sven Väth 1996 bei einer Großparty in einem gesperrten Straßentunnel in Frankfurt© dpa / picture alliance / Arne Dedert
Ganz anders die gesamtgrafische Gestaltung. Kein Wunder, sie stammt von einem, der früh aus Frankfurt nach Berlin kam: Alexander Branczyk. Als Czyk hat er schon in den 90ern das Magazin "Frontpage" gestaltet, das Zentralorgan der deutschen Techno-Szene.

"Ich will, dass es wenigstens noch vibriert"

Damals wie jetzt für das Buch hieß das: Neue Schriften erfinden, Lesbarkeit dem Design unterordnen. Im Czyk-Style verwischt alles, als hätte man 40 Stunden drüber getanzt:
"Ich hab mit Purismus nix am Hut gehabt. Sondern im Gegenteil: Wir haben unseren Frieden ja da gesucht, dieses Chaos zu erzeugen. Und diese Aufgeräumtheit endlich zu dekonstruktivieren. Ich will das gar nicht funktional haben, sondern ich will, dass es wenigstens noch vibriert. Und das Unordentliche, das kannste natürlich nur, wenn du aus dem Vollen schöpfst."

Bei dieser Frankfurter Sicht fehlt der Kunst- und Underground-Touch der frühen Techno-Szene. Ihre politisch-utopische Motivation dagegen taucht als Buch-Thema auf. Und endlich auch mal Drogen und die Genderdebatte. Mit dem Frauen-Netzwerk Mint - und einer der wichtigsten weiblichen DJs, Monika Kruse:
"Man hat so’n Außenseiterstatus. Man wird am Anfang nicht ganz ernst genommen. Techno ist auch ziemlich sexistisch. Da muss 'ne Frau erst mal zeigen, dass sie’s ernst meint. Es ist einfach zweimal schlimmer, wenn 'ne Frau einen Mix verkackt, als wenn ein Mann das macht."
Christian Arndt: "Ich möchte zum Diskurs beitragen. Ich möchte sicherlich eigene Akzente setzen. Aber ich stell mich jetzt nicht hin und sag: So ist es gewesen."
DJane Monika Kruse anlässlich des Techno Festivals Mayday in Dortmund, 2008
DJane Monika Kruse auf dem Techno-Festival Mayday in Dortmund 2008© imago

Themeninseln statt klarer Gliederung

Und so bereichert Christian Arndt die Debatte zur Techno-Geschichte. Auf einige Interview-Teile hätte er verzichten können. Das haben andere Bücher - wie das zum "unverzichtbaren Standardwerk" hochgejubelte "Der Klang der Familie" - schon unnachahmlich vorgemacht.
Gut dagegen, wie er - anders als einst Tobias Rapp oder zuletzt Westbam - in seiner kulturpolitischen Analyse weiterdenkt. Zum Beispiel "Clubkultur als Auslöser UND Opfer von Gentrifizierung" zeigt. Oder an der weniger kommerzdominierten Street Parade Zürich, warum die Love Parade scheitern musste.
"Electronic Germany - DJs, Klänge, Clubkultur" ist mit seinen Themeninseln statt klarer Kapitel-Gliederung mehr ein Buch zum lustvollen Lesen als zum gezielten Stöbern. Christian Arndt ordnet als Kulturwissenschaftler ein, legt als journalistischer Autor ein zeitgemäßes Storytelling vor. Und jeder, der dabei war, kann sowieso noch von seinen Personen, Orten und Geschichten erzählen.

"Es ist kein Experten-Buch für Experten, sondern es ist wirklich ein Buch für jeden. Für die, die dabei waren. Aber vielleicht auch für die Kinder, die sich fragen, was ihre Eltern früher nachts gemacht haben."

Christian Arndt: Electronic Germany - DJs, Klänge, Clubkultur
Edel Books 2019, 240 Seiten, 24,95 Euro

Electronic Germany - der Podcast
Der Podcast von Christian Arndt und DJ Eastenders zum Buch Electronic Germany. Die beiden sprechen über die Geschichte der Technokultur in Deutschland und der Schweiz. Es geht um DJs, Klänge, Clubkultur, die innovativsten Labels und Künstler aus über 33 Jahren, die Loveparade und die Street Parade, Drogen und Politik. Mit vielen O-Tönen bekannter Protagonisten. Hier geht's zu iTunes.

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