Christian Berkel: "Ada"
Ullstein-Verlag 2020
400 Seiten, 24 Euro
Heraustreten aus dem Schweigen
09:18 Minuten
Mit "Ada" schreibt der Schauspieler Christian Berkel sein früheres Buch "Der Apfelbaum" fort: Die Hauptfigur Ada kämpft in den 1960ern gegen das Schweigen der Elterngeneration über die NS-Zeit. Für den Autor bleibt das eine wichtige Mahnung.
Ute Welty: Er spielt Bundeskanzler, KZ-Ärzte, Ermittler. Christian Berkel hat als Schauspieler ein breites Spektrum und bleibt doch immer erkennbar. Ob internationale Kinoproduktion oder deutsche Fernsehserie: Wo Berkel draufsteht, ist auch Berkel drin.
Das gilt auch für sein erstes Buch "Der Apfelbaum". Es ist stark biografisch geprägt und erzählt die Geschichte der Eltern, vor allem die der Mutter aus einer jüdischen Intellektuellenfamilie. Heute erscheint mit "Ada" sein zweiter Roman. "Ich hatte es verloren", so beginnt das neue Buch. Wie lange mussten Sie über diesen ersten Satz nachdenken?
Christian Berkel: Das hat in der Tat eine ganze Weile gedauert, das war ähnlich wie beim "Apfelbaum". Ich brauche immer eine gewisse Weile oder einige Anläufe und Versuche, bis ich die Perspektive gefunden habe. Da wandert eine ganze Menge in den Papierkorb, und das war auch bei "Ada" so. Ich habe zuerst multiperspektivisch, also aus der Perspektive von verschiedenen Figuren, angefangen zu erzählen, bis ich das Gefühl hatte, irgendwas stimmt noch nicht so richtig. Und dann irgendwann habe ich mich ausschließlich für Ada und ihre Perspektive entschieden. Dann geht es meistens relativ zügig voran.
Welty: Sie erzählen aus der Sicht von Ada, aus der Ich-Perspektive, und widmen das Buch Ihrer Frau und Schauspielerkollegin Andrea Sawatzki. Entdeckt Christian Berkel seine weibliche Seite neu?
Berkel: Neu will ich gar nicht mal sagen. Ich bin mir der Seite letztlich immer sehr bewusst gewesen, das ist wahrscheinlich in unseren Berufen nichts Ungewöhnliches. Ich glaube, Kreativität, Empathie – also die wichtigste Fähigkeit für einen Schauspieler und auch für einen Schriftsteller ist ja eigentlich das Einfühlungsvermögen, sich in andere Welten, in andere Figuren hineindenken zu können – das ist tatsächlich bei Frauen stärker ausgeprägt als bei Männern.
Sinnliche Erinnerungen an die 1960er-Jahre
Welty: Für "Der Apfelbaum" haben Sie intensiv recherchiert, auch in der eigenen Familiengeschichte. Was ist davon beim Schreiben von "Ada" eingeflossen, oder mussten Sie noch mal ganz neue Wege gehen?
Berkel: Ursprünglich sollte "Der Apfelbaum" fast das ganze 20. Jahrhundert abdecken. Das war der Plan, also bis 1989 ungefähr gehen, bis zum Mauerfall. Irgendwann beim Schreiben habe ich gemerkt, das wird dann ein 1000-Seiten-Roman oder mehr. Und das ist vielleicht für ein Debüt ein bisschen heftig.
Welty: Wollten Sie sich das nicht zumuten, oder wollten Sie das den Lesern nicht zumuten?
Berkel: Beides. Dann habe ich damals zum Verlag gesagt, ich gehe mit dem "Apfelbaum" bis zur Rückkehr von Sala mit Ada, also bis 1954. Dann kommt der zweite Roman. Das Ganze ist mittlerweile als Trilogie geplant, es wird also auch noch einen dritten geben. Die Recherchearbeit, die ich am Anfang gemacht habe, ging eigentlich so bis zum Ende der 1980er-Jahre. Trotzdem war es jetzt noch mal etwas anderes. Es war auch eine ganz andere Art der Arbeit, weil ich in der Zeit, in der "Der Apfelbaum" spielt, nicht gelebt habe, während ich in den 1960er-Jahren zwar sehr klein war, also sehr viel jünger als Ada, aber an die hab ich doch sehr genaue, auch sehr sinnliche Erinnerungen – von den ganzen Geschichten, von den Gerüchen, von der Musik, von dem, was eben dieses Jahrzehnt ausgemacht hat.
Eine Generation, die nicht länger schweigen wollte
Welty: Konnten Sie denn jetzt auch freier erfinden als beim "Apfelbaum", um dem Roman vielleicht auch eine neue Dichte zu geben?
Berkel: Ja, das war zwingend notwendig. Denn allein die Ich-Perspektive der Ada war natürlich ein sehr viel fiktionalerer Vorgang als beim "Apfelbaum". Wobei auch beim "Apfelbaum" letztlich die Familiengeschichte der Rahmen ist. Das, was ich da wusste, bildet den Rahmen oder den roten Faden, aber da musste ich natürlich viel erfinden, denn ich kannte eigentlich diese ganzen Geschichten aus den Lagern überhaupt nicht. Das Entscheidende dieser Generation war, dass sie nicht gesprochen haben, dass sie nichts erzählt haben.
Welty: Und wo treffen Sie sich heute mit Ada? Ist das dieses enge Gefühl zwischen Wirtschaftswunder und Mauerbau in einer autoritär geprägten Gesellschaft?
Berkel: Ja, ganz stark. Die Ada gehört zu dieser Generation. Meine Generation hat das auch noch betroffen, aber diese Generation eigentlich noch stärker, die mit diesem Schweigen auf den Schultern aufgewachsen ist, die dann aber irgendwann gesagt hat: Das kann doch alles nicht sein. Wir wollen uns damit nicht mehr abfinden, wir wollen wissen, was gewesen ist, wir wollen eine Auseinandersetzung, wir wollen raus aus dieser verschmockten, verstaubten Adenauer-Zeit, wir wollen leben.
Wenn man sich vorstellt, 1965, als dieses berühmte erste Stones-Konzert in der Waldbühne in Berlin war und aus dem Ruder gelaufen ist, wo die Zuschauer, enttäuscht, dass das Konzern abgebrochen wurde, dann randaliert haben, S-Bahn-Waggons umgekippt haben. Das war ein Riesenskandal damals, und die Elterngeneration regte sich wahnsinnig auf. Aber was hatte diese Elterngeneration davor getan? Die hatte gerade ganz Europa in Schutt und Asche gelegt, die hatten sechs Millionen europäische Juden umgebracht. Dagegen war das Randalieren, was an sich sicherlich nichts Schönes war, aber das war nun wirklich gar nichts im Vergleich.
Rechtsradikalismus beginnt in der Sprache
Welty: Diese Figur Ada, eine Geschichte aus der jungen Bundesrepublik, die sich sehr schwer getan hat mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus: Wo stehen wir da heute, ein Jahr nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle?
Berkel: Als ich mit dem ganzen Projekt, auch "Apfelbaum", anfing, das liegt ja schon eine Weile zurück, hätte ich es mir eigentlich nicht träumen lassen, dass so etwas bei uns wieder möglich wird. Aber es zeigt, dass man sich immer wieder mit dieser Vergangenheit auseinandersetzen muss und gucken muss, wie es eigentlich zu solchen Strukturen kommt.
Wenn man da genau hinschaut, merkt man, es fängt immer mit der Sprache an. Die Rechtsradikalen oder Faschisten versuchen immer erst Gewalt auf sprachlicher Ebene zu etablieren, um dann der Sprache Taten folgen zu lassen. Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass je im Bundestag so ein Satz wie von Gauland über den Vogelschiss der Geschichte ausgesprochen wird. Ich hätte mir solche Attentate noch vor zehn Jahren nicht vorstellen können, wie sie jetzt fast mit einer gewissen tragischen Regelmäßigkeit stattfinden. Wir hatten es gerade vor Kurzem in Hamburg, dass vor einer Synagoge ein Jude angegriffen wurde, mit einer Schaufel versucht wurde niederzuschlagen und, und, und. Das ist fürchterlich.
"Wir müssen aus dem Schweigen immer wieder heraustreten"
Welty: Und was kann dagegen helfen, haben Sie eine Idee?
Berkel: Das Einzige, was helfen kann, wo der Einzelne was tun kann, ist, sich in seinem Umfeld auseinanderzusetzen, miteinander reden, sprechen. Das ist eigentlich das, was diese Generation von der Ada, die man später die 68er-Generation genannt hat, in Gang gebracht hat, dass sie gesprochen haben. Das war nicht nur diese politische Ebene. Es gab die Frauenbewegung, die damals wirklich angefangen hat. Die Leute haben gemerkt, dass dieses Schweigen nicht nur ein gesellschaftliches oder politisches Problem ist, sondern dass dieses Schweigen ihr eigenes Leben einengt. Und das tut das Schweigen immer, wenn wir nicht miteinander reden. Das geht bei der Ada bis in die Sexualität, bis in ihre Beziehung, weil sie zum Beispiel nicht genau weiß, wer ihr Vater ist. Ist es der eine Mann oder der andere Mann, den ihre Mutter ihr am Anfang des Buches vorstellt? Diese ganzen Unsicherheiten tun dem Menschen nicht gut.
Welty: Sind das die Erkenntnisse über diese Zeit, in der Sie selber auch aufgewachsen sind, die Ihnen helfen, Deutschland im Jahr 2020 besser zu verstehen?
Berkel: Ich weiß nicht, ob ich Deutschland besser verstehe. Aber vielleicht hilft es einem, sich selbst ein Stück weit besser zu verstehen. Wir müssen aus diesem Schweigen schon im eigensten Interesse immer wieder heraustreten.
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