Christian Bermes: "Meinungskrise und Meinungsbildung. Eine Philosophie der Doxa"
Felix Meiner Verlag, Hamburg 2022
122 Seiten, 14,90 Euro
Öffentliche Debatten
Über Meinungen erschließen sich Menschen die Welt, sagt der Philosoph Christian Bermes. © imago / Ikon Images / Gary Bates
Meinungen sind keine Privatsache
25:39 Minuten
Können wir wirklich alles meinen, was wir wollen, oder sind dem Grenzen gesetzt? Christian Bermes betrachtet den Streit um Meinungen und Meinungsfreiheit aus philosophischer Sicht - und stellt Kriterien auf, wann eine Äußerungen als Meinung gelten kann.
„Ist nur meine Meinung…“ Ob es um die Gefährlichkeit des Coronavirus geht, die Beschaffenheit der Erde (vielleicht ja doch eine Scheibe?) oder die Haltung zum Ukrainekonflikt: Im gegenwärtigen Diskurs wollen viele Menschen ihre Äußerungen explizit als Meinung verstanden wissen – und damit auch als besonders geschützt, nämlich durch die Meinungsfreiheit. Doch ist alles, was da geäußert wird, immer eine Meinung? Und was braucht es, damit eine Äußerung als Meinung gelten kann?
Dieser Frage geht der Philosoph Christian Bermes, Professor an der Universität Koblenz-Landau, in seinem Essay „Meinungskrise und Meinungsbildung“ nach. Er begibt sich damit auf ein Terrain, das in der Geschichte der Philosophie lange Zeit eher eine Nebenrolle gespielt hat, von der Disziplin der Rhetorik einmal abgesehen.
Ansonsten galt vielen Philosophen die Meinung nicht viel: Die Meinung "erbleiche" vor der Wahrheit, meinte etwa Hegel. Im 20. Jahrhundert dagegen habe es eine Bewegung zur „Rehabilitierung“ der Meinung gegeben, etwa mit Edmund Husserl, dem frühen Heidegger bis hin zu Hannah Arendt, sagt Bermes.
Meinungen manifestieren sich in der Interaktion
Der Landauer Philosoph sieht Meinungen als ein Mittel des Menschen, sich die Welt zu erschließen. „Wir können die Welt des Menschen nicht beschreiben, indem wir nur auf Wissen und Handlungsroutinen eingehen oder auf anderes, sondern die menschliche Welt ist dadurch ausgezeichnet, dass Meinungen im Spiel sind.“
Dabei sind Meinungen dem Philosophen zufolge keineswegs nur etwas „rein Subjektives, rein Privates, rein Innerliches“, sondern etwas, das sich in konkreten Situationen und in der sozialen Interaktion manifestiert: „Stellen wir uns vor, wir müssten uns in ein Zimmer zurückziehen mit einem Buch von zehn Seiten und alle unsere Meinungen aufschreiben“, sagt Bermes. Das könne auch sehr enttäuschend enden. „Vielleicht kommt man aus diesem Zimmer raus und es steht da gar nicht so viel drauf.“
Kriterien, damit etwas als Meinung gilt
Da sich Meinungen erst in sozialen Interaktionen manifestieren, müssen Bermes zufolge auch bestimmte Kriterien erfüllt sein, damit eine Äußerung im philosophischen Sinne als Meinung gelten kann. Zum Beispiel das Kriterium Stimmigkeit: "Wenn eine Meinung geäußert und artikuliert wird, fragen wir, ist die Meinung in dem Sinne stimmig, dass sie in irgendeiner Beziehung zu der Person steht, die die Meinung äußert und zum Ausdruck bringt.“
Auch müsse eine Äußerung adäquat sein, also situationsgemäß, sowie "verständig": "Verständigkeit meint zum einen Umsicht in der Sache, meint aber zum zweiten auch, dass wir die Differenz von Wahrheit und Falschheit nicht ausschließen, sondern offen für diese Differenz sind.“
Schließlich müsse eine Äußerung sich auch an ihrer "Tauglichkeit" messen lassen: „Kann diese Meinung tatsächlich mit ihren Folgen, die sie bringt, etwas zur Klärung beitragen?", so Bermes. "Denn das erste, was wir fragen, ist nicht immer, ob eine Meinung wahr oder falsch ist, sondern ob sie treffend oder nicht treffend ist unter dem Gesichtspunkt der Angemessenheit.“
(uko)