Christian Bommarius: 1949. Das lange deutsche Jahr
Droemer, München 2018
320 Seiten, 19,99 Euro
Demokratie ohne Demokraten
Von der Währungsreform bis zu den ersten Amtshandlungen der ersten Bundesregierung dauerte für den Journalisten Christian Bommarius "das lange deutsche Jahr". Seine materialreiche Analyse wirft einen düsteren Blick auf die Gründungszeit von BRD und DDR.
Jahreswechsel vor siebzig Jahren. Berlin ist von allen Zufahrtswegen abgeschnitten und wird von den Alliierten durch eine Luftbrücke versorgt. In Bonn arbeitet ein parlamentarischer Rat an der Verfassung des künftigen deutschen Weststaats. In der Ostzone schreitet die Organisation eines Einheitsstaats voran. Seit dem Sommer gibt es in beiden Teilen Deutschlands neue Währungen.
Im Westen wird wieder konsumiert, Weihnachtsgänse sind, obwohl sehr teuer, ein Verkaufsschlager. Der Unmut gegen die Besatzungsmächte wächst. Ein Großteil der Deutschen fühlt sich zu Unrecht gedemütigt und bestraft. Im kommenden Jahr werden, das ist bereits klar, zwei Staaten entstehen: die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik.
Ein Buch mit Zeitzeugen, nicht über sie
Der Journalist Christian Bommarius, der 2009 bereits eine "Biografie" des Grundgesetzes publiziert hat, fasst in seinem neuen Buch die Zeit zwischen der Währungsreform im Juni 1948 und der Verkündung des Amnestiegesetzes für bestimmte Nazi-Straftaten durch die neue Bundesregierung am 31. Dezember 1949 als ein langes Jahr zusammen.
Es ist weniger eine historische Betrachtung, die er da geschrieben hat, als eher ein historisches Mosaik: aus Presseberichten, Briefen (etwa von Theodor Heuss, dem ersten Bundespräsidenten), Tagebuchaufzeichnungen von Prominenten (wie Thomas Mann) und Unbekannten, diplomatischen Noten, juristischen Texten. Er habe ein Buch mit den Zeitzeugen schreiben wollen, nicht über sie, sagt Bommarius.
Zu Wort kommen die einstige Widerstandkämpferin Ruth Andreas-Friedrich, der junge Schriftsteller Max Frisch, der emigrierte Jurist Hans Kelsen, der Spandauer Häftling Albert Speer, der Herausgeber der "Frankfurter Hefte", Eugen Kogon, der frühere Direktor bei der Deutschen Bank Friedrich Helms, der in einem Brandenburger Gartenhäuschen hungert, der rebellische Leipziger Student Gerhard Schulz, und viele, viele andere.
Die neuen Karrieren der alten Nazis
Bommarius organisiert diese Texte monatsweise und verknüpft sie zu einem erzählerischen Gewebe. Manche Stimmen kehren dabei immer wieder, manche Namen tauchen immer wieder auf: die der alten Nazis, wie Bilfinger oder Erich Mende, die an den entscheidenden Stellen in Politik, Justiz, Forschung und Bildung wieder oder immer noch die Fäden zogen. Es ist erschreckend, wie sich ihre Karrieren gleichen: Nach Entnazifizierung mittels zweifelhafter "Persilscheine" und Freisprüche (oder sehr milden Gerichtsurteilen, die nur teilweise vollstreckt wurden) geht es steil aufwärts, dank eines Netzwerks der Schuldigen, die sich völlig im Recht fühlen. Das ist nicht neu, man hat das zum Teil schon in der Schule gelernt – und zum Teil auch von Lehrern, die das ganz in Ordnung fanden.
Entsprechend düster fällt Bommarius’ Resümee über die junge Bundesrepublik aus: "Der neue Staat war eine Demokratie, aber die überwältigende Mehrheit seine Einwohner waren keine Demokraten." Schon gegen den Namen "Bundesrepublik" regte sich Widerspruch: Man hätte lieber wieder ein "Reich" gehabt. Kuriose Fußnote: gegen den neuen Namen "Bundesbahn" protestierten mehrere Keglervereine: Diese Bezeichnung komme nur bestimmten Kegelbahnen zu.