Ich zucke und schreie und rufe Ausdrücke. Und das Ganze ziemlich heftig, so dass ich mit den Armen und Beinen ausschlage oder auch mit dem Kopf nach vorne gehe.
Performer und Mediengestalter Christian Hempel
Christian Hempel © Andreas Tamme
“Draußen bin ich eine Störung – auf der Bühne eine Attraktion“
35:11 Minuten
Wenn Christian Hempel in „Chinchilla Arschloch, waswas“ auf der Bühne steht und Schimpfworte ruft, wird sein Tourette-Syndrom Teil des Stücks. Im Alltag dagegen lebt es sich mit den Tic-Störungen oft nicht leicht, erzählt der Mediengestalter.
Die ersten Symptome hatte Christian Hempel im Alter von zehn Jahren. Zunächst war es nur ein Augenzwinkern, dann kam häufiges Räuspern hinzu. Und irgendwann machte sich ein kleines Zucken im Körper bemerkbar. Seine Eltern brachten ihn zum Arzt: “Man hat damals relativ großen Alarm gemacht, dass man das alles wieder wegbekommt“, sagt er. Doch die Beschwerden gingen nicht zurück. Die Diagnose: Tourette-Syndrom.
Beule am Kopf, Kissen im Wohnzimmer
Zum Krankheitsbild des Tourette-Syndroms gehören die sogenannten Tic-Störungen. Bei Christian Hempel sind sie stark ausgeprägt:
Am Kopf hat Christian Hempel eine Beule, von der er sagt, sie gehe gar nicht mehr weg, sie habe sich dort schon “eingenistet“. Das komme von den unkontrollierten Kopfbewegungen. “Manchmal verrechne ich mich bei der Flugbahn meines Kopfes und treffe dann doch irgendwas.“
In seinem Wohnzimmer hat Hempel viele Kissen verteilt, auf dem Boden vor seinem Fernseher steht ein alter Koffer, der ihn davon abhält, “auf den Fernseher einzustürmen“. Auch seinen Arbeitsplatz – Hempel arbeitet als Mediengestalter – hat er umgebaut und schützt seine Bildschirme vor unwillkürlichen Zuckungen mit einem Spezialglas. Die Schreibtischplatte ist komplett gepolstert.
Schimpfen, Fluchen, Hitlergruß
Die Gesellschaft sei heute offener, was Tourette angehe. Das liege daran, dass besser über die Krankheit informiert werde, meint Hempel. Trotzdem gebe es viele Einschränkungen in seinem Leben: “Wenn ich ins Bach-Oratorium will, passt das nicht zusammen mit Tourette.“
Also lässt er es. Denn Mitmenschen könnten nicht nur durch seine Bewegungen irritiert werden – bei Christian Hempel kommt auch noch Koprolalie dazu, unkontrolliertes Schimpfen, oft verbunden mit obszönen Ausrufen.
"Keine Absicht, nur Tourette", warnt er, wenn er mit Fremden zu tun hat. Die Krankheit suche sich immer Dinge, die provozierten. Hempel hat auch schon den Hitlergruß gezeigt, obwohl er das “ganz schrecklich“ findet.
Wie ein Kochtopf, der Druck aufbaut
Über die medizinischen Ursachen für das Tourette-Syndrom gibt es immer noch erstaunlich wenig gesicherte Erkenntnisse. Vermutlich sei der Grund ein Ungleichgewicht im Serotonin- und Dopamin-Haushalt, sagt Hempel. Er nehme dagegen ein Medikament, das nicht speziell für Tourette entwickelt worden sei, aber ein wenig „die Spitzen“ nehme.
Mit den Jahren hätten sich seine Tics dennoch verändert, seien härter geworden:
Das ist vergleichbar mit einem Kochtopf, der Druck aufbaut. Und dann muss dieser Druck raus.
Trotz Fluchtinstinkt auf die Bühne
Christian Hempel steht zu seiner Krankheit und trägt sie mittlerweile auch auf die Bühne. Denn er will anderen Menschen vom Leben mit dem Tourette-Syndrom erzählen. Gemeinsam mit zwei anderen Mitspielern, die ebenfalls unter Tourette leiden, tritt er in dem Stück “Chinchilla Arschloch, waswas“ von Rimini Protokoll auf.
Als ihn Regisseurin Helgard Haug fragte, ob er bei ihrem Stück mitmachen wolle, habe er zunächst abgelehnt, sagt er. Und auch heute noch sei da jedes Mal vor dem Auftritt dieser “Fluchtinstinkt“. Doch auf der Bühne entstünde dann oft eine unglaubliche Resonanz beim Publikum:
“Dort passiert etwas, was im normalen Leben gar nicht möglich ist – dort wird mir ganz genau zugehört! Als ob jeder Tic eine Bedeutung hätte. Ich kann da auf der Bühne machen, was ich will. Unter der Überschrift von Kunst ist da alles möglich – und das Verrückte soll gerne gezeigt werden.“
Noch nie habe er sich auf der Bühne unangenehm beobachtet gefühlt, sagt der Performer.
Hempel, der sonst kaum seine eigene Wohnung verlässt, empfindet es als unglaubliche Freiheit, plötzlich vor 200 Leuten zu stehen:
Das finde ich ganz toll an dem Stück. Draußen bin ich eine Störung – hier bin ich eine Attraktion.
(tif)