Das Einfache wird brennend ersehnt in unserer hyperkomplexen Gegenwart. Mit den Ratschlägen der japanischen Ordnungsberaterin Marie Kondō räumen übersättigte Westler ihre Wohnungen auf und buchen, wenn sie besonders viel Geld besitzen, zertifizierte Konmari-Consultants. Dazu passend verspricht der psychoanalytische Komplex mit seinen #mentalhealth-Hashtags innere Struktur und Seelenheilung, eine Neumöblierung des Unbewussten: „Therapie to Go – für mehr Leichtigkeit im Alltag“.
Das unerreichte Ideal: Ätherisch werden, frei wie Luft, annäherungsweise ein Leben führen in leergefegten, weißen Räumen. Eine Gegenbewegung erkennt, dass dieser Minimalismus allein jenen vorbehalten ist, die sich aufgrund ihres Einkommens erlauben können, Sachen wegzuwerfen. Auch das innere Gerümpel wird langsam wieder nobilitiert, Stichwort Katharina Pommer: „Das Kind in mir kann mich mal.“
Minimalistische Sehnsüchte
Dass nun Paul, der Held von Christian Krachts „Air“ interior designer, ergo ein Architekt fürs Innere ist und dass er die minimalistischen Sehnsüchte par excellence materialisiert, mag als erster Gegenwartshinweis dieses zum Bersten gegenwartsgesättigten Zeitgeistromans gelten. Paul richtet im nordischen Stil Wohnungen und Häuser ein, die verkauft oder vermietet werden sollen. Er bedient einen Instagram-Minimalismus, der leeren Räumen gerade so viel hinzufügt, dass eine Idee von Menschlichkeit spürbar wird.
Er legte abgelaufene alte türkische Kelims aus oder seine bevorzugten weißen Schafwollteppiche, und wenn der Fotograf kam, dann arrangierte er sorgfältig orangefarbene Rhododendronzweige in tönerne Krüge und ein paar Fundstücke vom Flohmarkt irgendwohin und stellte eine teure, mit weißem Segeltuch bezogene gustavianische Chaiselongue ins Wohnzimmer. Und wenn doch noch wider Erwarten Sachen herumlagen, alte ausgedrückte Zahnpastatuben etwa, entrümpelte er und versteckte, was nicht zu entrümpeln war, ließ die Wände seladongrün streichen und legte ein Dutzend alte, orangefarbene Penguin-Taschenbücher aus, und er befolgte stets seine ersten beiden Regeln des home staging: Alle Lampen mußten immer an sein, auch tagsüber, und es mußten immer alte Glühbirnen verwendet werden, niemals Energiesparbirnen.“
Verschrobene, antikapitalistische Metaphysik
Paul selbst lebt mit einer einäugigen Katze zurückgezogen auf den schottischen Orkney-Inseln – und wie in jeder Geschichte Christian Krachts begibt sich auch dieser Held auf eine Reise, die ihn zum Urgrund seiner Existenz führen wird.
Die einäugige Katze, deutlicher Hinweis auf eine der berühmtesten Schauergeschichten Edgar Allen Poes, ist ein unheilvolles Menetekel auch der Handlungszeit, die beschrieben wird als: „Das Leben war voller Sorgen, aber auch nicht wirklich.“ Paul wird von der Vintage-Design-Zeitschrift „Kūki“ kontaktiert, die sich selbst dem Minimalistischen, dem Aufgeräumten und dem vermeintlich Ursprünglichen verschrieben hat.
In den ersten Jahren des Magazins hatte Kūki die modernistische, skandinavisch-japanische Reduktion noch als notwendig angesehen, darauf folgten dann im Laufe der Jahre die Nachhaltigkeit und die strenge Wiederverwertung und der asketische Verzicht, und heute schließlich plädierten die Fotostrecken und Artikel für eine sanfte, leicht verschrobene, antikapitalistische Metaphysik.
Auf der Suche nach dem perfekten Weiß
„Kūki“ bedeutet auf Japanisch „Luft“, passend zum „Air“-Romantitel – und mit einem weiteren der Luft zugeordneten Phänomen sieht sich Paul konfrontiert, denn er soll eine riesige Halle weiß streichen – die gigantischen, in Stein gehauenen Innenräume eines norwegischen Cloud-Speichers. Dafür soll er das perfekte Weiß finden. So betont es sein Auftraggeber Cohen, der Chefredakteur des „Kūki“-Magazins. In der Fiktion des Romans ist dieses tatsächlich existierende Rechenzentrum nicht bloß ein privatwirtschaftlicher Anbieter für Datensicherung, sondern: das digitale Gedächtnis der modernen Menschheitsgeschichte.
Jede einzelne Fotografie der jährlichen Trillionen mit Mobiltelefonen aufgenommenen Erinnerungen werde dort aufbewahrt. Immense Speicherkapazitäten seien das, alle Hochzeiten, die Kirschblütenzeit in Japan, alle Geburten, Reaktorunfälle, Insektenschwärme, kleine Katzenbabys, die mit Wollknäueln spielten, Kriegsversehrte, Palmen im Sonnenuntergang, 5 Milliarden Fotos am Tag.
Hysteria im Fantasyland
Gegen diese Bilderflut soll der „White Cube“ stehen – eine deutliche Hommage an Eckhard Nickels Neoromantik-Trilogie „Hysteria“, „Spitzweg“ und „Punk“, in der das gebrochene iPod-Weiß ebenfalls als zeichenabsorbierendes Nichts allegorisiert wird. Das Weiß wird bei Kracht gegen die Bilderflut gestellt – und wie die Trilogie Nickels hat auch „Air“ eine phantastische Ebene, die dem hyperrealen, superästhetisierten ersten Plot gegenübergestellt wird.
Das Buch spielt einerseits auf den schottischen Orkney-Inseln, danach im norwegischen Stavanger mit seiner ebenfalls weißgestrichenen Altstadt – andererseits ist es situiert in einer keltischen Anderswelt. In dieser heldenepischen Parallelhandlung geht die neunjährige Ildr allein zur Jagd, um ihren Lebensunterhalt sicherzustellen. Ihre Mutter ist längst tot, der Vater auf Wanderschaft. Ildr lebt in einer Hütte am Rande des Waldes.
Die Bettstatt neben der Feuerstelle, der grob gezimmerte Tisch in der Mitte der Stube, die beiden Stühle, die tönernen Krüge auf dem Regal an der Wand, das kleine Faß, in dem eine Axt, die Schaufel und der Besen aufbewahrt wurden, und die vom Ruß des Feuers mit der Zeit dunkel gewordenen Wände. Eines Tages würde sie hier alles ganz sicher wieder weiß kalken.
Gegenwart und Fantasie-Vergangenheit stehen nebeneinander
Wie in der antiken Vorstellung der Anderswelt, die nach dem Tod betreten – aber auch wieder verlassen – werden kann, so stehen bei Kracht die norwegische Gegenwart und das phantastisch anmutende Ildr-Terrain im wechselseitigen Verhältnis zueinander.
Innenarchitekt Paul tritt gleichsam in das Leben der Neunjährigen. Die Halbwaise erschießt mit Pfeil und Bogen ein Reh, das sich im selben Augenblick in einen fremden Mann verwandelt – also dergestalt, wie im Märchen der Brüder Grimm ein Frosch wütend gegen die Wand geworfen wird und sich im Herabfallen sogleich in einen „Königssohn mit schönen und freundlichen Augen“ verwandelt oder wie sich in William Butler Yeats’ Gedicht „The Song of Wandering Aengus“ eine silberne, dem Feuertod geweihte Forelle in ein schimmerndes Mädchen verwandelt.
„Hundert, vielleicht neunzig Schritte vor ihr in den Büschen hatte sie das Reh getroffen. Sie hörte ein leises Stöhnen, und das Tier sank hinab in den Bodennebel. Ildr schob sich die vom Tau naß gewordene Kapuze ihres Umhangs in den Nacken, schulterte den Köcher und lief behutsam vorwärts, erst im Zickzack, dann von der linken Seite heran. Man sollte nie geradeaus auf ein Ziel zulaufen.“
So viel Grausamkeit
Der mirakulös in Ildrs Leben getretene Fremde ist eine zweite Version des bereits bekannten Paul und wird von den Häschern eines Herzogs verfolgt. Aufgrund des Pfeilschusses ist er verletzt. Er wird sich kaum allein durchschlagen können. So fliehen Paul und das neunjährige Mädchen gemeinsam Richtung Süden.
Sie begeben sich in unwirtliches Gelände, müssen kämpfen, sich verstecken, sie irren umher, bis sie von einem anderen Volk aufgenommen werden, das karge, in den Fels gehauene Unterkünfte bewohnt – quasi die urzeitliche Variante des norwegischen Cloud-Speichers.
Ein paar Seemöwen segelten über ihnen im hellen Wind. Die beiden fühlten sich, als hätten sie schon wer weiß wie lange keine Vögel mehr gesehen. Und Menschen, wirkliche Menschen, die einer Arbeit nachgingen und ihnen nicht nach dem Leben trachteten. Es war soviel Tod um sie gewesen, soviel Grausamkeit.
Weiß ist auch die Welt der Steinhausbewohner. Weiß sind die Berge – und weil der österreichische Autor des „Tractatus logico-philosophicus“ ausdrücklich im Roman genannt wird, kann man sagen, dass die Bewohner im wortwörtlichen „Wittgenstein“ also, im weiß gewordenen Stein hausen; Womit man bei der Sprache wäre und damit bei der Literatur, die sich in Buchstabenform über perfektweiße Seiten ergießt.
Über ihnen war eine Art Terrasse aus dem Fels gehauen, der in einiger Entfernung wiederum eine besondere Färbung aufwies, als ob er dort aus opakem Glas bestand und nicht aus festem Gestein.
Spröd-öde Gegenwart
Opak ist die Poetik Christian Krachts, „wie man es aus der abstrakten Fotografie kennt, die kein konkretes Motiv hat, sondern vielmehr auf ihre eigene Materialität verweist – so wie Krachts Texte oft nur scheinbar etwas Gegenständliches oder Reales zeigen, auf einer tieferen Ebene jedoch vor allem ihre Literarizität ausstellen.
Gut, „Air“ kann durchaus auf einer simplen Ebene gelesen werden – ohne Verweise auf Ludwig Wittgenstein, opake Kunst oder die Brüder Grimm. Auf dieser einfacheren Ebene wird eine nahezu kindliche, an Astrid Lindgrens „Die Brüder Löwenherz“ angelehnte Fantasygeschichte sehr trickreich verbunden mit einer modernen, Kracht-typischen Ennuie-Betrachtung über die spröd-öde Gegenwart, die im Rückgriff auf Minimalkonzepte ihre endgültige Sinn-Entleerung zelebriert.
Diese Lesart ignoriert jedoch, dass im Titelwort „Air“ die AI steckt, die „Artificial Intelligence“. Dieser spektakuläre Roman ist nämlich auch eine inhaltliche wie ästhetische Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten „Künstlicher Intelligenz“ und simulierter Welten, weshalb der Eröffnungssatz „Das Leben war voller Sorgen, aber auch nicht wirklich“ gar nicht ironisch gelesen werden muss, sondern wörtlich gelten kann, denn für dieses Nicht-Wirkliche interessiert sich auch Cohen, der „Kūki“-Chefredakteur und Auftraggeber von Innenarchitekt Paul.
Er las eine halbe Stunde in einem Buch über den Mathematiker John von Neumann, aber er konnte sich überhaupt nicht konzentrieren. Wenn er einen Absatz über von Neumanns selbstreproduzierende Automaten zu Ende gelesen hatte, hatte er vergessen, was am Anfang gestanden war, und er mußte noch mal von vorne beginnen. Und dann diese Schlaflosigkeit. Seit Jahren schon, wenn er mal ehrlich war. Seit Jahrzehnten.
Vordenker der KI
Im posthum veröffentlichten Fragment „Die Rechenmaschine und das Gehirn“ (De Gruyter, 80 Seiten, 109 Euro) denkt John von Neumann über die wechselseitigen Beziehungen zwischen der Rechenmaschine auf der einen und dem menschlichen Denk- und Nervensystem auf der anderen Seite nach. So, wie im „Air“-Roman kein einziges Wort zufällig gesetzt ist, erscheint die Nennung des Mathematikers und Informatikvordenkers von Neumann als notwendige Kerbe jenes kompliziert gearbeiteten Schlüssels, der die phantasievolle Kracht-Geschichte öffnet.
Die hier dargestellte künstliche Welt emaniert in die vermeintliche Realität, wie in unserer Gegenwart gibt es zwei Realitäten, die geradezu diffundieren. Immer wieder erwachen Figuren aus Träumen, sehen sich von der einen in die andere Erzählebene geworfen. Oder ist möglicherweise eine Sonneneruption verantwortlich, dass Paul in den Fantasyplot teleportiert wird? Auch ein Gemälde, das den Zauberer Merlin und den Ritter Lancelot zeigt, wird als Portal beschrieben.
Der Zauberer Merlin war in eine lange helle Kutte gekleidet, und eine weiße Kapuze bedeckte seinen Hinterkopf und verbarg auch sein Gesicht. Am Himmel waren die verglühende Abendsonne zu sehen und ein paar hingehuschte Wolken. Merlin schritt, Sandalen an den Füßen, selbstbewußt und emphatisch dem Ritter Lancelot auf dem Pfad voraus. Lancelot, der seltsam müde, phlegmatisch und versunken im Sattel eines ebenso müden schwarzen Pferdes saß und sich von Merlin den Weg hinüber ins Schattenreich weisen ließ, ritt dem Zauberer nach, links aus dem Bild hinaus.
KI und Ethik
Am Ende des Romans werden Paul und Cohen in einer Art Tableau vivant selbst zu Merlin und Lancelot, sie stellen das Ölgemälde unfreiwillig nach. Ein literaturwissenschaftlicher Fachaufsatz mit der Überschrift „Christian Krachts ‚Air' im Spannungsverhältnis zu Jean Baudrillards ‚Simulakrum’-Theorie“ drängt sich nachgerade auf.
Cohen saß auf seinem schwarzen Pferd, die Schultern gesenkt. Er trug die Rüstung, die er in der Festung des Herzogs gefunden hatte, und die Lanze über der Schulter. An deren Spitze hing der Fetzen einer lange zerschlissenen, roten Fahne. [...] Paul, in seine weiße Kutte gekleidet, deren Kapuze ihm tief ins Gesicht hing, schritt Cohen voraus, um ihm den Weg in die Berge zu zeigen.
Wer Paul und Cohen sind, ist nicht leicht zu bestimmen in dieser absichtlich unscharf gehaltenen Erzählung. Doch kann man festhalten, dass beide Figuren zweifelsfrei Erfindungen des Schriftstellers Christian Kracht sind – womit ein anderer, direkt auf John von Neumann zurückgehender Diskurs angedeutet wird. Er betrifft die ethische Dimension künstlicher Intelligenz, die Frage also, ob eine Maschine für moralisch verwerfliches Handeln haftbar gemacht werden kann, aber auch, welche Verantwortung Menschen gegenüber Künstlicher Intelligenz, gegenüber ihren eigenen, lebenswirklichen Erfindungen haben. Letztere Überlegung wurzelt tief, vom antiken Pygmalion-Mythos bis zu den Abenteuern eines weltberühmt gewordenen Hampelmanns.
Spielberg revisited
Der italienische Autor Carlo Collodi hat ab 1881 mit seiner Pinocchio-Figur ein Artefakt vorgestellt, das sich nichts sehnlicher wünscht, als ein richtiger Junge zu sein. Adaptiert und modernisiert wurde die Pinocchio-Geschichte in Steven Spielbergs Blockbuster „A.I. – Künstliche Intelligenz“. Auch dieser Film ist bedeutsam für das tiefere Verständnis von Krachts „Air“ – und für das Verhältnis zwischen Paul und Cohen, der bereits bei der Auftragsvergabe im norwegischen Stavanger anmerkt:
Paul müsse sich alles, was jetzt folgen würde, bitte so vorstellen, als sei er, Paul, der Regisseur Steven Spielberg, und er, Cohen, der Regisseur Stanley Kubrick. Ob er vielleicht den alten Spielberg-Film Artificial Intelligence gesehen habe? Es sei ja eigentlich Kubricks Projekt gewesen, das er aber in seinen Freund Spielberg hineinemaniert hatte, bevor er starb, denn nur Spielberg könne diesen Film machen, zu dem er, Kubrick, nie in der Lage gewesen war.
Die Antwort auf die Frage, welche Verantwortung Menschen gegenüber ihrer Schöpfung haben, wird von Steven Spielbergs Film synchron zu Christian Krachts Roman gegeben. Artefakte sollten im besten Falle so konstruiert sein, dass sie sich gegenseitig helfen können. So wie der kindliche KI-Roboter bei Spielberg in seiner Not vertrauen kann auf Seinesgleichen, so kann der angeschossene Paul vertrauen auf die Pflege der neunjährigen Ildr – und Cohen am Ende auf Pauls Hilfe, als sie gemeinsam vom Schlachtfeld ziehen wie einst Ritter Lancelot und Zauberer Merlin in den Artusromanen.
Diese pathetische Gestimmtheit ist anderer Natur als Christian Krachts Familienrecherche „Eurotrash“ oder seine autobiographisch markierte Frankfurter Poetikvorlesung, in der er von einem persönlich erlittenen Missbrauch berichtete. „Air“ kann als Folge dieser privatimen Seelenerkundungen gelesen werden, als freudianische Sublimation eines großen Schriftstellers, der am Ende seiner Vorlesung „The Song of Wandering Aengus“ von William Butler Yeats rezitierte – ein Gedicht, das sich mit der künstlerischen Anverwandlung und Heilung einer Lebenserfahrung auseinandersetzt.
„Fort ging ich in den Haselwald,
weil Feuer war in meinem Kopf,
und schnitzte mir ‘nen Haselstab
hing Beeren dran an eine Schnur.
Und als ich weiße Falter sah
und Falter Sterne löschten aus,
warf ich im Bach die Beeren aus,
zog silberne Forelle raus.
Als die dann auf dem Boden lag
und ich das Feuer schüren ging,
da raschelte am Boden was
und jemand rief mich namentlich.
Als Mädchen schimmernd stand sie da
mit Apfelblüten hoch im Haar,
die mich bei meinem Namen ruft
und lief und schwand in heller Luft.
Obwohl ich alt vom Fahren bin,
durch Ebenen und Hügelland,
ich finde noch, wohin sie ging,
und küss sie, nehm‘ sie bei der Hand.
Gehe in hohem gesprenkeltem Gras
und pflücke, bis die Zeit sich trollt,
die Silberäpfel voller Mond,
die Sonnenäpfel voller Gold.“
Ein Roman als Heilsversprechen
Das Gedicht „The Song of Wandering Aengus“ in der Übersetzung von Norbert Hummelt (W.B. Yeats: „Gedichte/Poems“, der Hörverlag/Penguin). Von Christian Kracht wurde es am Ende seiner Frankfurter Poetikvorlesung rezitiert, am Anfang des „Air“-Romans ist es noch einmal im Original abgedruckt – mit William Butler Yeats die Verbindung zwischen dem privaten Trauma des Schriftstellers und seiner Literatur herstellend. Wer zu Yeats späteren, an den Kosmos des „Air“-Romans erinnernde, voller Idiosynkrasien und Esoterik überlagerte Schrift „Eine Vision“ (Kröner, 336 Seiten, 26 Euro) greift, wird einen weiteren Schlüssel zum fabelhaften Duktus, zur literarischen Weltentrückung Christian Krachts entdecken – zu seiner Überfülle, die er bewusst gegen einen glattpolierten Minimalismus setzt.
Seine Geschichte über Paul, Cohen und Ildr kann verschiedentlich gelesen werden, als eine Transzendierung über das Verhältnis von KI zum Humanen, von Simulationen zur Wirklichkeit. „Air“ ist aber mehr als AI, es ist auch ein Abenteuerroman in der Tradition der Artussage, der Pinocchio-Fabel Carlo Collodis oder Steven Spielbergs Kinofilm „A.I. – Artificial Intelligence“. Dieses Buch inszeniert ein geschicktes Spiel mit wiedererkennbaren Motiven, Kinderbuchbildern und Hollywood-Plots, sodass der permanente Eindruck entsteht, man erinnere alles „von irgendwoher“.
Obwohl gleich zweimal im Roman auf eine opake, auf eine undurchlässige Materialität hingewiesen wird, das angestrengte Zeichenlesen und –entziffern möglicherweise ein Spiel des Textes mit seinen Exegeten ist, kann man „Air“ mindestens auch auf eine andere, sich unbedingt aufdrängende Weise lesen: als ein Heilsversprechen, das sich der große Schriftsteller Christian Kracht selbst gegeben hat.