Die Modelleisenbahn kreist nicht mehr
Buch und Regie der neuen Folge von "Polizeiruf 110" stammen von Christian Petzold. Der Titel "Kreise" hänge mit Modelleisenbahnen zusammen, sagt der Filmemacher. Im Krimi werde diese einstmals harmonische Welt von der harten Realität entzaubert.
Es ist sein Debüt als Krimiautor: Die nächste Folge von "Polizeiruf 110" mit dem Titel "Kreise" am 28. Juni 2015 stammt vom Filmemacher Christian Petzold, der für Drehbuch und Regie verantwortlich ist.
Petzold ist ein Künstler, der ein gewisses Maß an Beständigkeit pflegt. Er arbeite immer gerne mit denselben Schauspielern zusammen, sagte er im Deutschlandradio Kultur:
"Das hängt damit zusammen, dass man hier in Deutschland eigentlich keine richtige Filmindustrie hat. Wir tun ja nur so, und da muss man mit jedem Film eigentlich eine Firma gründen, und das Kino neu erfinden. Ich habe mir immer gewünscht, dass man eine Gruppe hat, die sich gemeinsam weiterentwickelt. Denn das kollektive Denken ist dem individuellen überlegen."
Erinnerungen an das "alte Fernsehen"
Dem Ermittlerteam aus Barbara Auer und Matthias Brandt fühle er sich in gewisser Weise geistesverwandt, meinte Petzold:
"Die sind so Anfang 50, wie ich. Und die beiden haben auch in den siebziger Jahren, also als 15-Jährige, Erik Ode und Horst Tappert gesehen und Peter Falk. Und die haben ein altes Fernsehen. Und diese Erinnerungen an das alte Fernsehen – die ist in dem Film sicherlich drin. Das war nicht beabsichtigt, aber es hat sich hereingeschlichen."
"Die sind so Anfang 50, wie ich. Und die beiden haben auch in den siebziger Jahren, also als 15-Jährige, Erik Ode und Horst Tappert gesehen und Peter Falk. Und die haben ein altes Fernsehen. Und diese Erinnerungen an das alte Fernsehen – die ist in dem Film sicherlich drin. Das war nicht beabsichtigt, aber es hat sich hereingeschlichen."
Prostitution, Verbrechen, Zersiedelung
Der Titel "Kreise" dieses "Polizeirufs" sei damit zu erklären, dass darin Modelleisenbahnen eine große Rolle spielten, so Petzold. Er habe als Kind auch dieses Spielzeug besessen. Das sei damals noch eine harmonische Welt ohne Verbrechen gewesen:
"Und dann habe ich vor 20, 25 Jahren Modelleisenbahner kennen gelernt, die den Kreis durchbrochen haben: Die Eisenbahn kreist nicht mehr, sondern sie verschwindet unter der Tischplatte."
Damit habe sich die Wirklichkeit plötzlich ganz konkret in den Kosmos der Modelleisenbahn hinein geschlichen.
"Es gab also Prostitution, es gab Verbrechen, es gab Orte auf dieser Modelleisenbahn, die so aussahen wie die Bundesrepublik: nämlich zersiedelt. Und das hat mir gefallen."
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Das vollständige Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Deutscher Filmpreis, Deutscher Fernsehpreis, Grimme-Preis und einen Silbernen Bären – die Liste der Auszeichnungen für Regisseur Christian Petzold ist lang und mit dem, was ich aufgezählt habe, noch lange nicht abgeschlossen, denn wer weiß, ob jetzt nicht noch ein Preis dazu kommt für den ersten "Polizeiruf", den Christian Petzold gedreht hat. Das Ermittlerteam hat einen Mord aufzuklären, ja, eigentlich sogar einen Doppelmord. Und ein Opfer ist prominenter als das andere, wie Sie folgendem Ausschnitt entnehmen können:
O-Ton 1: Das Opfer wurde erwürgt mit einem dünnen Kabel, hat sich tief ins Fleisch geschnitten. Postmortal wurde der Unterleib des Opfers entkleidet.
O-Ton 2: Wurde sich an der Leiche vergangen?
O-Ton 1: Nein.
O-Ton 2: Sperma, Urin, irgendwelche Spuren?
O-Ton 1: Nein.
O-Ton 2: Was ist mit dem Hund?
O-Ton 1: Auch erwürgt.
O-Ton 2: Wieder das Kabel?
O-Ton 1: Wahrscheinlich mit bloßen Händen.
O-Ton 2: Muss sich der Täter nicht verletzt haben? Ein Hund? Mit bloßen Händen?
O-Ton 1: Werfel war fünf Jahre alt und hatte eine Hormonstörung. Das wird schnell gegangen sein.
O-Ton 2: Werfel?
O-Ton 1: Ja. So hieß der Hund.
Sie kannten ihn?
O-Ton 1: Wir sind ein Vorort hier. Jeder kannte ihn.
Welty: Ein Ausschnitt aus dem morgigen "Polizeiruf 110" im Ersten. Für Regie und Drehbuch zeichnet eben Christian Petzold verantwortlich, den ich jetzt in "Studio 9" begrüße. Guten Morgen!
Christian Petzold: Guten Morgen!
Welty: Regie und Drehbuch, alles aus einer Hand, das ist so etwas wie Ihr Markenzeichen, wie Sie auch gerne immer mit denselben Schauspielern arbeiten, mit Nina Hoss zum Beispiel zum fünften, sechsten, siebten Mal – ich kann es gar nicht mehr zählen.
Petzold: Sechsmal.
Welty: Welches Maß an Beständigkeit braucht es, damit es ein echter Petzold wird?
Das kollektive Denken ist dem Individuellen überlegen
Petzold: Na ja, es ist ja – warum ich immer mit denselben Leuten, nicht nur den gleichen, sondern denselben Leuten arbeite, hängt damit zusammen, dass man eigentlich hier in Deutschland ja keine richtige Filmindustrie hat. Wir tun ja nur so. Und da muss man mit jedem Film eigentlich eine Firma gründen und das Kino neu erfinden. Und ich habe mir immer gewünscht, dass man eine Gruppe hat und die sich gemeinsam weiterentwickelt, denn dann ist das – das kollektive Denken ist dem Individuellen überlegen, würde ich mal sagen.
Welty: Schwarmintelligenz.
Petzold: Heutzutage lernt man das so.
Welty: Erfinden Sie jetzt das Fernsehen neu mit diesem "Polizeiruf"
Petzold: Nein, also ich – hoffentlich nicht. Ich gucke mir keine Sendung an, wo jemand vorher sagt, ich habe das Fernsehen neu erfunden. Ich finde 20:15 Uhr was Tolles. Ich finde, dass man – meine Kinder haben Netflix und andere Streamingdienste, und die gucken immer nur das, was sie bestellen. Und ich finde – ich kann eine gute kleine Geschichte dazu erzählen, fällt mir ein. Es war vor ein paar Wochen, da lief auf Arte, ich glaube, ein Film von Sidney Lumet, den ich noch nicht kannte. Und da rief mich ein Freund an, der sagte, du, wir müssen ein bisschen reden, und da sagte ich, nee, es ist sieben Minuten nach acht, in acht Minuten beginnt der Film. Fragt der mich, ob ich Oldschool bin.
Welty: Hätte ich jetzt auch gefragt.
Petzold: Kannst du doch aufzeichnen oder kannst du ja hier auch irgendwie im Internet den Film angucken. Und das hat mir gerade ein Glücksgefühl gegeben, dass man sich so ein bisschen richtet, dass die Welt einem nicht komplett zur Verfügung steht, sondern man muss sich auch ein bisschen in dieser Welt einrichten. Und das Tolle war dann, dass dieser Arte-20:15-Uhr-Beitrag auch noch von Dominik Graf eingeführt worden ist. Also, wir hatten im Grund genommen die Erinnerung an die Fernsehansagerin. Und die – die mir fehlt.
Welty: Wobei die Fernsehansagerinnen besser aussahen als Dominik Graf. Ohne Dominik Graf zu nahe treten zu wollen, oder?
Petzold: Der sah an dem Abend verdammt gut aus. Und er sprach so toll. Also das war schon toll. Nein, das ist auch etwas, was mit dem "Kreise" zu tun hat. Das sind ja Leute, Barbara Auer, Matthias Brandt, die sind so wie ich, so Anfang 50. Und die –
Welty: Das Hauptermittlerteam.
Erinnerungen an das "alte Fernsehen"
Petzold: Das Ermittlerteam, ja. Und die beiden haben auch in den 70er-Jahren, so als 15-Jährige Erik Ode und Horst Tappert gesehen und Peter Falk. Und die haben ein altes Fernsehen. Und diese Erinnerung an das alte Fernsehen ist in dem Film sicherlich drin. Das war nicht beabsichtigt, aber hat sich reingeschlichen.
Welty: Sie haben es gerade schon gesagt, "Kreise" heißt dieser "Polizeiruf", weil sich die Ermittler im Kreis drehen, weil sich die Geschichte im Kreis dreht?
Petzold: Das kommt daher, dass Modelleisenbahnen in diesem Film eine große Rolle spielen. Und ich hatte selber eine, und da war ein großer Kreis, und in diesem Kreis war eine harmonische Welt, wie sich die Menschen das so vorstellen. So eine Art Minigolfwelt der Harmonie. Und da gab es keine Verbrechen – vielleicht mal ein Verkehrsunfall oder so was. Und dann hatte ich vor 20, 25 Jahren, Modelleisenbahner kennengelernt, die den Kreis durchbrochen haben. Denn die Eisenbahn kreist nicht mehr, sondern die verschwindet unter der Tischplatte, taucht irgendwo anders wieder auf. Und dadurch hat sich auch das Wirkliche, unsere Wirklichkeit in diese Modelleisenbahn hineingeschlichen. Es gab also Prostitution, Verbrechen, es gab Orte auf dieser Modelleisenbahn, die so aussahen wie die Bundesrepublik, nämlich zersiedelt, und man hat immer das Gefühl, dass eine blaue Plastiktüte aus "Aktenzeichen XY" mit Leichenteilen irgendwo in der Ecke liegt. Und das hat mir gefallen. Und deswegen heißt es "Kreise" und das Ausbrechen aus Kreisen.
Welty: Ihr eigener Anspruch an einen Krimi war, ein Krimi muss auch was erzählen. Was erzählt "Kreise", der "Polizeiruf" von morgen Abend, außer dass eine Möbelfabrikantin ermordet wird, und auch, wie gehört, der Hund der Fabrikantin ermordet oder getötet?
Petzold: Na, das mit dem Hund war ja so, ich hatte das – das ist eine Geschichte, die – ich habe einen Freund, der ist Rechtsanwalt, der hat einen Fall gehabt, und da tauchte eine reiche Frau und ihr ermordeter Hund auf, und dieses Tatortbild, von dem er mir erzählt hat, zwei Laubhügel im Wald, ein kleiner und ein großer, und neben dem großen Laubhügel sind die Schuhe der Ermordeten, ganz säuberlich, wie man das früher an Hotelzimmern so hatte, da gab es extra so ein Tuch, in italienischen Hotels gibt es das immer noch, wo man dann seine Schuhe auszieht und dann seine Füße auf dieses Tuch stellt und die Schuhe ganz säuberlich neben das Bett stellt. Und so sah dieser Tatort aus. Und das Bild hat sich bei mir eingeprägt. Sonst geht es in dem Film eigentlich um Leute, die sich verlieben, aber sich nicht verlieben wollen.
Welty: Das ist ein weites Feld.
Petzold: Ja, das ist ein weites Feld, und es ist noch längst nicht beackert.
Welty: Sie sprechen schon von den Bildern, also auch gerade diese Tatortszene am Anfang, die ich schon sehen durfte. Ich habe dann aber ausgemacht, weil ich morgen Abend gerne live dabei sein möchte, wenn es sozusagen ausgestrahlt wird. Diese Szene am Anfang, ist die symptomatisch für Ihre Bildsprache, die Sie vielleicht nicht neu erfunden haben fürs Fernsehen, aber die Sie ja doch jetzt entwickelt haben? Und inwieweit ist das ein Gegensatz zum Kinofilm?
"Im Fernsehen betrete ich ein Haus, was andere schon gebaut haben"
Petzold: Ich habe das gar nicht als Gegensatz begriffen. Das ist – die Produktion und der Ablauf und die Gespräche, die wir haben, und die Proben, die wir haben, die Intensitäten sind identisch mit der Arbeit an Kinofilmen. Aber der Unterschied ist, man arbeitet in etwas, was schon existiert. Im Kino muss ich eben alles neu erfinden, muss immer sagen, das ist jetzt mal was ganz anderes. Und im Fernsehen betrete ich ein Haus, was andere schon gebaut haben. Ich kann da vielleicht noch ein paar Möbel umstellen und eine andere Glühbirne reinschrauben und endlich diese Energiescheißlampen da austauschen und endlich mal wieder menschliches Licht rein bekommen, aber ich kann es verbessern und verschlechtern, ich kann versagen, und ich kann es demontieren, aber ich muss in eine Beziehung dazu kommen. Und das hat mir gefallen. Und der Matthias Brandt ist ja nun eine Figur, die lebt ja, die hat ja eine Identität. Die zieht herum, die hat keinen Ort, die ist ein bisschen auch zersiedelt. Und das ist eine ganz interessante Figur. Mit dem Matthias Brandt konnte ich an dieser Figur arbeiten.
Welty: Ihren ersten Film haben Sie vorgeführt im Christlichen Verein Junger Männer damals, in Haan in der Nähe von Düsseldorf, in Ihrer Heimatstadt, und zwar vor schwer erziehbaren Jugendlichen. Inwieweit unterscheidet sich das ARD-Publikum am Sonntagabend davon? Oder unterscheidet es sich vielleicht gar nicht so sehr?
Petzold: Ich weiß nicht, ich – 20:15 Uhr, Halbkreis, Sonntag, das sitzt tief bei mir in den Genen drin. Das war bei uns auch so. "Tagesschau", Wetterkarte, dann "Tatort" oder später der "Polizeiruf". Und dann leider später diese grauenhaften Talkshows dann, die, glaube ich, nur dazu da sind – da wird der Halbkreis, der noch so ein bisschen was von Kino hat, um den Fernseher herum, wird bei der Talkshow – sitzt ja die Talkshow auch im Halbkreis zu uns hin und wie machen, wir vervollständigen den Kreis. Und ich kenne keine einzige Familie, also aus der Erinnerung, die nicht auch mitgeredet hat. Bei den Talkshows ist nie Ruhe, sondern die Fernsehzuschauer fangen auch an zu reden, über Griechenland oder was weiß ich, über Klitoris-Beschneidung – jeder hat da irgendwie eine Meinung. Und da ist der "Polizeiruf" oder der "Tatort" vorher ist noch ein Kinohalbkreis, das gefällt mir daran.
Welty: Morgen Abend im Ersten, der Kinohalbkreis für den "Polizeiruf 110" namens "Kreise", in der Regie von Christian Petzold, dem ich sehr herzlich für dieses "Studio 9"-Gespräch danke, das wir aufgezeichnet haben. Danke und viel Erfolg für morgen!
Petzold: Danke! Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.