Christian Welzbacher: "Bobby. Requiem für einen Gorilla"
Matthes & Seitz, Berlin, 2019
246 Seiten, 25 Euro
Ein Affe als Spiegel menschlicher Abgründe
06:44 Minuten
1928 kommt Gorilly-Baby Bobby in den Berliner Zoo und löst allerorten Aufregung aus. Christian Welzbacher baut aus Zeitdokumenten eine Collage, die viel über den Zeitgeist verrät.
Wie King Kong, nur echt: Der Gorilla Bobby lockt in den 1930er-Jahren Menschen aus ganz Europa in den Berliner Zoo. Im Rummel um den prominenten Affen verbindet sich eine Sehnsucht nach Wildheit mit Kolonialismus und Rassentheorien.
Die ersten Berichte über Gorillas handeln von tollkühnen Jägern, die im Urwald gegen zottelige Ungeheuer kämpfen. Mitte des 19. Jahrhunderts bekommen Forschungsreisende in Afrika die großen Menschenaffen erstmals zu Gesicht. Ihre Erzählungen vermischen sich mit Märchen und Mythen der Einheimischen.
Die Geschichten über legendäre Riesenaffen lassen niemanden ungerührt. Denn, so verrät ein Blick in Conrad Gessners "Thierbuch" von 1533: In Affen erkennen Menschen schon seit langem eine ungezähmte, von Lust und Lastern geleitete Seite ihrer selbst.
Als Charles Darwin 1859 sein Buch "Über die Entstehung der Arten" veröffentlicht, gibt seine Evolutionstheorie einen weiteren Anstoß zu Spekulationen über Gemeinsamkeiten von Mensch und Affe.
Aufregung durch Gorilla Bobby
Mit diesen geistigen Wegmarken macht Christian Welzbacher die Aufregung verständlich, die der Gorilla Bobby auslöst, als er 1928 im Berliner Zoo eintrifft. In einer Collage aus Zeitdokumenten rekonstruiert der Autor die Biographie des Publikumslieblings. Tierhändler, Tierfilmer, Zoodirektoren und viele weitere Zeitzeugen beschwören die Faszination, die Bobby entgegenschlägt.
Über viele Seiten hinweg schildert etwa der Schriftsteller Paul Eipper, wie der Gorilla im Zoo vom Affenbaby zu einem muskelbepackten Fünf-Zentner-Riesen heranwächst.
In diesem Vertrauen auf Originaltöne liegt ein großer Reiz des Buches – und zugleich sein entscheidendes Manko. Welzbacher verfolgt die Figur des Gorillas von Berichten aus der Kolonialzeit bis ins Kino, von den Anfängen der Evolutionslehre und der Tierpsychologie bis zur Ideologie der "Rassenhygiene".
Ermutigende und barbarische Schlüsse
Jede Darstellung des Affen eröffnet dabei eine eigene Sicht auf den Menschen. Ermutigend, wo wir dazu aufgefordert werden, uns an der Feinfühligkeit und am "Gemeinschaftssinn" der Tiere ein Beispiel zu nehmen – barbarisch und mit fürchterlichen Folgen, wo Darwins Abstammungslehre so umgedeutet worden ist, dass schwarze Menschen angeblich Gorillas näherstünden als dem Herrenmenschen-Ideal der Nazis.
Gerade weil sich Christian Welzbacher auch an diese heiklen Themen wagt, wäre es wünschenswert gewesen, dass er die verwendeten Quellen und ihre Hintergründe aus heutiger Sicht einordnet. Wessen Stimmen gibt er Raum? Vor welchem Hintergrund sprechen sie und mit welchen Interessen? Wie relevant und anerkannt waren die zitierten Positionen zu ihrer Zeit?
Eine Stimme fehlt
All das bleibt offen, weil Welzbacher seine Funde ganz allein für sich sprechen lässt. Im Chor der Stimmen fehlt seine eigene.
Das ist besonders schade, weil dieser facettenreiche Nachlass des Gorillas Bobby viele Themen berührt, die heute hochaktuell sind: Was fühlen und verstehen Tiere? Wie können wir ihre Lebensräume schützen – und wie Haus- und Zootiere ethisch angemessen behandeln? Wie stellen wir uns der Verantwortung für die Kolonialzeit?
Dazu wären die Einschätzungen eines kulturhistorisch so bewanderten Autors wie Christian Welzbacher sehr willkommen gewesen.