Deutschlands letzte Gemüsezüchter
05:34 Minuten
Ob Monsanto oder Bayer: Die großen Saatgutkonzerne bieten vor allem Pflanzensamen an, die nicht vermehrungsfähig sind. Das zwingt die Landwirte dazu, jedes Jahr neues Saatgut kaufen. Die Züchterin Christina Henatsch will das auf Gut Wulfsdorf bei Hamburg ändern.
"Ich fühle fruchtend fremde Macht, sich stärkend mich der Welt verleihen, den Keim empfinde ich reifend, und Ahnung lichtvoll weben im Inneren an der Selbstheit Macht. Gesegnete Mahlzeit. So Brei, hier."
Christina Henatsch zitiert vor jedem Essen den aktuellen Wochenspruch aus Rudolf Steiners "Anthroposophischem Seelenkalender". Auch vor diesem Frühstück der Saatgutzüchterin mit ihren drei Mitarbeitern Marina, Martin und Maja. Es gibt Getreidebrei mit Leinöl und frischen Himbeeren. Überall blüht es, Schmetterlinge und Bienen fliegen vorbei. Christina Henatsch verteilt die Aufgaben für den Tag: "Und dann solltet ihr vielleicht auch durch die Möhren nochmal durch. Samenernte."
Die einzigen deutschen Gemüsezüchter
Ihre Mitarbeiter ziehen bewaffnet mit Strohhut und Harke aufs Feld. Henatsch gießt sich Ostfriesen-Tee nach. Die Morgensonne scheint ihr jetzt in das sommergebräunte Gesicht. Lachfalten umspielen ihre Augen. Dabei ist das Thema, das sie seit Jahrzehnten umtreibt, ernst. Wenige Großkonzerne beherrschen europaweit die Saatgutzucht. Sie züchten Obst- und Gemüsesorten, die nur einmalig ausgesät werden können. "Früher, also vor 30 Jahren, gab es noch drei, vier Zuchtfirmen in Deutschland im Gemüsebereich. Die sind jetzt alle weg. Deutschland hat keinen Gemüsezüchter mehr außer uns."
Mit "uns" meint Henatsch den Verein "Kultursaat", für den sie seit vielen Jahren als selbständige "Kulturpflanzenentwicklerin" arbeitet. Henatsch züchtet ausschließlich samenfestes Gemüse. Also Pflanzen, deren Samen erneut ausgesät werden können – auch, um internationalen Saatgutmultis wie Bayer und Monsanto etwas entgegenzusetzen.
"So langsam dämmert es den Menschen, aber die Brisanz ist eigentlich überhaupt nicht bekannt. 99 Prozent dessen, was wir kaufen, sind Hybriden. Eigentlich sollte die Züchtung immer auf den Ergebnissen der Vorzüchter aufbauen, damit überhaupt kulturelle Entwicklung weitergeht. Die Pflanze ist ja Kulturbegleiter des Menschen. Und das wird durch diese hybride Züchtung vollständig abgeschnitten", sagt Henatsch.
Großeltern lebten als Selbstversorger
Samenfestes Saatgut ist die Ausnahme – auch im Biolandbau. Schon früh hat Henatsch diese Problematik erkannt. Vielleicht auch, weil ihre Großeltern als Selbstversorger lebten. Henatsch selbst ist in Hamburg groß geworden.
"Und habe aber mit 16 ein Berufspraktikum auf einem Demeter-Hof gemacht. Und da war mir auf Schlag klar: das ist meine Zukunft, ich möchte Gemüse anbauen. Demeter und Anthroposophie – da hatte ich meine geistige Heimat und Zugehörigkeit gefunden." Mit dem Züchten fing sie nach dem Studium der Landwirtschaft an.
Henatsch ist auf dem Weg zu einem ihrer Züchtungsfelder. Ihre Mitarbeiter befreien den Radicchio, der in langen Reihen wächst, von Beikräutern. Sonst kann man ihn schlecht für die Zucht selektieren. Henatsch: "Die hat runde Blätter und die hat gezackte Blätter und das ist dunkler und das ist heller. Den Kunden stört das natürlich gar nicht, aber wenn man das beim Bundessortenamt anmelden will, dann soll das einheitlich sein und dann muss auch die Blattrandgestaltung einheitlich sein und auch die Färbung einheitlich sein."
Zahlreiche Sorten hat sie schon angemeldet. Die Möhrensorte mit dem Namen "Fine", Mangold "Rainbow" oder den Brokkoli "Rasmus". Henatsch ruft: "Ja, wir kommen! Jetzt rufen die uns zum Tee und zum Tomaten verkosten." Unter einem Kirschbaum schneiden Marina und Maja gelbe und rote Tomaten in schmale Spalten. Henatsch schiebt sich eine in den Mund. "Die hat natürlich auch mehr Schale, aber das ist noch okay – aber fest. Fest." Henatsch protokolliert.
Eine Schatzkammer voller Samen
"Ist da eine Süße drin, ist das harmonisch, ist das ausgewogen? Und die Leckersten – davon nehmen wir dann das Saatgut." Das lagert in der "Schatzkammer". Ein kleiner Raum mit hohen Regalen, in denen Dutzende Kistchen mit Samentüten stehen. In jedem Tütchen steckt jahrelange Zucht- und Forschungsarbeit. Die Basis ihrer Zukunftsideen.
Zum Beispiel: Trockengemüse als Ersatz für Tiefkühlkost. "Du brauchst keine Tiefkühlkosten, weder für den Transport noch zuhause. Das Gewicht ist reduziert, das heißt, du hast auch ein Zehntel des Gewichtes und fährst es durch die Gegend. Also wir haben es bei Möhren und Porree ausprobiert. Es war unwesentlich weniger schmackhaft als das frische Produkt, im Gegenteil es ist super. Es ist einfach nur super."
Gemüseanbau für den Klimaschutz. Das ist die Zukunft, meint Henatsch.