Christine M. Korsgaard: "Tiere wie wir"

Nicht nur Menschen haben Werte

11:45 Minuten
Eine Katze sitzt auf einem Küchentisch und schaut in die Kamera
Tiere zu essen sei moralisch nicht haltbar, sagt die Philosophin Christine M. Korsgaard; eine Hauskatze zu halten, sei aber in Ordnung. Blöd nur, dass die gern Fleisch isst … © Unsplash / Paul Hanaoka
Von Florian Werner |
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Die US-amerikanische Moralphilosophin Christine M. Korsgaard ist der Überzeugung, dass wir keine Tiere zum Fleischkonsum halten sollten. Für ihre eigenen Katzen allerdings macht sie Ausnahmen.
Das, was Immanuel Kant in seiner 1798 erschienenen "Anthropologie in pragmatischer Absicht" schrieb, blieb fast zwei Jahrhunderte lang prägend für das Verständnis über das Verhältnis von Mensch und Tier.
"Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle auf Erden lebenden Wesen. Dadurch ist er eine Person, das ist ein von Sachen, dergleichen die vernunfthlosen Tiere sind, mit denen man nach Belieben schalten und walten kann, durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen."
Menschen, so die Argumentation, sind als einzige Wesen vernunftbegabt. Sie allein können in einem wechselseitigen Verhältnis moralischer Gesetzgebung stehen. Und sie sind daher auch nur Angehörigen der eigenen Art gegenüber moralisch verpflichtet.

Tiere haben moralische Ansprüche

Falsch, meint Christine M. Korsgaard, Professorin für Philosophie in Harvard und selbst eine bedeutende Denkerin in der Nachfolge Immanuel Kants: Auch nicht-menschliche Tiere können, um eine berühmte Formulierung des Königsberger Philosophen zu verwenden, "Zwecke an sich selbst" sein. "Tiere wie wir", heißt entsprechend Korsgaards gerade erschienene Ethik "Warum wir moralische Pflichten gegenüber Tieren haben".
"Jedes Wesen, für das Dinge gut oder schlecht sein können, hat uns gegenüber einen moralischen Anspruch." Diese zu Beginn ihrer Buchs formulierte These entfaltet die Philosophin mit enormer gedanklicher Tiefe, Gründlichkeit, argumentativer Präzision und immer wieder auch Humor.

Wir sind nicht wie andere Tiere

Anders als der Titel nahelegt, fußt Korsgaards Argumentation allerdings nicht auf den zweifellos existierenden Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Tier. Im Gespräch erläutert sie:
"Viele Philosophen, die sich für Tierrechte starkmachen, betonen das Verbindende. Meine Theorie funktioniert etwas anders: Ich erkenne durchaus an, dass es bedeutende Unterschiede zwischen Menschen und anderen Tieren gibt. Das Wort, das ich verwende, um diesen Unterschied zu markieren, steht in der Tradition von Aristoteles und Kant: Vernunft. Was ich damit meine, ist: Wir sind uns bewusst, warum wir etwas glauben oder tun; wir können über die Beweggründe für unser Handeln nachdenken; und wir können sie bewerten. Das unterscheidet uns von anderen Tieren."

Jede Lebensform hat andere Werte

Tiere handeln instinktiv: Sie sind weder zu kühl-rationalen Risikoabwägungen noch zu einer ethischen Einordnung ihres Verhaltens in der Lage. Das bedeutet aber nicht, dass ihr Dasein weniger wertvoll wäre als das unsere. Wie wir streben sie danach, sich selbst zu erhalten, sich fortzupflanzen, kurz: das für sie funktional Gute zu suchen und das Schlechte zu vermeiden.
"Wenn nichts wichtig sein kann, ohne wichtig für ein bestimmtes Geschöpf zu sein, dann können wir keinen Standpunkt einnehmen, von dem aus wir sinnvoll fragen könnten, welches Geschöpf oder welche Art von Geschöpfen im absoluten Sinne wichtig ist. Für Menschen wie Tiere ist das bewusste Dasein als solches ein Gut. Tiere haben fast per definitionem ein solches Gut oder Wohl in einem moralisch bedeutsamen Sinne", schreibt Korsgaard.
Anders formuliert: Alle Werte sind an Wesen und ihre spezifischen Lebensformen "gebunden". Für den Menschen mag es gut sein, nach moralischen Prinzipien zu handeln, für ein Schwein hingegen ist es gut, sich nach Herzenslust im Dreck zu wälzen. "Ein Geschöpf als Zweck an sich selbst zu bezeichnen, heißt demnach, ihm den Wert zuzusprechen, den es sich selbst als Lebewesen notwendig zuspricht, und darum sein höchstes Gut als etwas Erstrebenswertes zu betrachten."

Nur Tiere in unserer Größenordnung

Wenn wir einem nicht-menschlichen Tier diese Art von Wert zusprechen, folgt daraus, dass wir seine Rechte achten und sein Wohl fördern müssen – oder, um die kantische Formulierung zu verwenden: dass wir es nicht als Mittel zu einem anderen Zweck gebrauchen dürfen. Dies gilt, so Korsgaard, allerdings nur für fühlende Organismen, welche die Welt wertend wahrnehmen und entsprechend handeln können. Ihre Bestimmung, was ein "Tier" ist, deckt sich nicht unbedingt mit der biologischen Definition.
"Zum einen mag es Tiere geben, die keine Empfindungen, kein Bewusstsein haben – und was meine Theorie angeht, haben wir solchen Wesen gegenüber keine anderen Verpflichtungen als etwa gegenüber Pflanzen", sagt Koorsgard. "Verstörender finde ich allerdings, dass es Tiere gibt, die so klein sind, dass wir gar nicht auf ethische Weise mit ihnen interagieren können. Nehmen wir zum Beispiel Hausstaubmilben. Das sind winzige Spinnentiere, die in unserem Bettzeug leben, bis zu 40.000 Stück davon können in einem Kopfkissen sein, so klein sind sie. Manche Menschen töten diese Tiere, weil sie allergisch dagegen sind. Falls die Milben über Schmerzempfinden verfügen, was wir nicht genau wissen, wirken manche der dabei verwendeten Methoden durchaus unmenschlich. Ich glaube nicht, dass wir sehr viel dagegen machen können. Es mag merkwürdig klingen, aber: Damit wir ethische Beziehungen mit anderen Lebewesen eingehen können, müssen sie irgendwie in unserer Größenordnung sein."
Beim Verfassen von "Tiere wie wir", so Korsgaard, habe sie daher vor allem Säugetiere und Vögel im Kopf gehabt: also einerseits Geschöpfe, mit denen wir auf Augenhöhe leben, und andererseits Wesen, die seit Jahrtausenden von uns gezüchtet, gemolken, zu Arbeitszwecken gebraucht und geschlachtet werden. Nimmt man Korsgaards Argumentation ernst, ist es mit solchen Formen der Nutztierhaltung vorbei. Die Philosophin selbst wurde während der Arbeit an ihrem Buch zur Veganerin:
"Ich bin ganz klar der Meinung, dass wir Tiere nicht halten sollten, um sie zu essen. Ob es möglich ist, sie artgerecht zu halten, um Milchprodukte oder Eier zu gewinnen, mag noch nicht abschließend geklärt sein - ich bin da aber eher pessimistisch. Zum einen, weil Bauern schon früher, bevor es die industrielle Landwirtschaft gab, grausame Sachen gemacht haben, etwa dass sie Kühen ihre Kälber weggenommen haben. Und zum anderen, weil es fraglich ist, ob man das überhaupt finanzieren kann. Denn wenn man Tiere gut behandeln will, muss man ihnen natürlich erlauben, so lange zu leben, bis sie irgendwann eines natürlichen Todes sterben. Das wäre sehr teuer."

Und was ist mit den Haustieren?

Bei bestimmten Arten von Haustieren drückt die Moralphilosophin allerdings ein Auge zu – namentlich bei Hunden und Katzen, die, wie sie argumentiert, von ihrer Genealogie und ihrem ganzen Wesen her auf das Zusammenleben mit Menschen angewiesen sind und die in unserer Obhut durchaus ein gutes Leben führen können:
"Ich habe nur wenig Zweifel daran, dass Hunde glücklich sind. Bei Katzen ist das etwas schwieriger zu beurteilen. Ich glaube schon, dass meine Katzen glücklich sind. Sie haben auf jeden Fall diese Pandemie genossen. Wie jeder Katzenhalter weiß, mögen sie es, wenn man zu Hause ist. Jedenfalls: Wenn wir weiterhin Haustiere halten, müsste es soziale Einrichtungen geben, die den Umgang mit ihnen regeln, so wie es soziale Einrichtungen gibt, die den Umgang zwischen Eltern und ihren Kindern regeln. Nach derzeitigem Stand sind die Tiere nämlich auf Gedeih und Verderb ihren menschlichen Besitzern ausgeliefert."
Tatsächlich kommen Christine Korsgaards Katzen, im Gespräch wie im Text, immer wieder um die argumentative Ecke geschlichen; das Buch ist ihnen sogar in Dankbarkeit gewidmet. Die Tiere, erzählt die Professorin nicht ohne Selbstironie, hätten ihr in den vergangenen 35 Jahren nicht nur enorme Freude bereitet, sondern sie auch zu einer besseren Philosophin gemacht:
"Die Philosophie beschäftigt sich damit, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Eine Frage, die sich fast von selbst daraus ergibt, lautet: verglichen womit? Tiere sind uns ähnlich, unterscheiden sich von uns aber auch auf interessante Weise. Das lässt unser Menschsein klarer hervortreten. Hinzu kommt: Es ist Aufgabe der Moralphilosophie, über das Wesen von Handlungen nachzudenken, denn Handlungen sind entweder richtig oder falsch. Wenn aber nur menschliche Handlungen richtig oder falsch sind, müssen sie sich irgendwie von den Handlungen anderer Tiere unterscheiden. Kurz gesagt: Tiere ermöglichen uns auf unterschiedlichste Weise, unser Dasein mit ihrem zu vergleichen – und so kommt man gedanklich voran."

Dürfen Katzen Fleisch essen?

Dass sie auf mehr als 300 Seiten darlegt, warum Fleischverzehr ethisch falsch ist, und dann ein Loblied auf ihre karnivoren Begleiter singt, ist ein Widerspruch, dessen sich die Autorin bewusst ist. Sie habe mit ihren Tieren "ein moralisch anrüchiges Leben geführt", gesteht Korsgaard zerknirscht ein, und hofft auf die baldige Marktreife von synthetischem Fleisch. Dennoch mag sie von ihren Katzen nicht lassen: Die emotionale Anziehungskraft solcher "companion animals" bestehe nicht zuletzt darin, dass sie in keinem wertenden Verhältnis zu ihren Mitgeschöpfen stehen. Man könnte auch sagen: Dass sie keine Tiere sind wie wir.
"Wenn Menschen erklären wollen, warum sie ihre Haustiere so lieben, sagen sie oft, weil sie dich nicht beurteilen", so Koorsgard. "Dein Tier liebt dich nicht, weil du attraktiv bist oder intelligent oder 'gut' oder was auch immer, es liebt dich einfach nur, weil du da bist. Hinzu kommt, dass Hunde und Katzen auf schamlose Weise anhänglich sind. Sie können sich über die kleinsten Sachen unglaublich freuen. Ich glaube, sie erinnern uns daran, dass wir das Leben einfach genießen sollten."

Christine M. Korsgaard: "Tiere wie wir. Warum wir moralische Pflichten gegenüber Tieren haben. Eine Ethik"
Aus dem Englischen übersetzt von Stefan Lorenzer
C.H. Beck, München 2021
346 Seiten, 29,95 Euro

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