Man hat plötzlich wieder Zeit, wirklich die Gedanken hemmungslos frei schweifen zu lassen. Ich genieße das total: über das nachdenken zu können, worauf ich Lust habe.
Langstreckenwanderin Christine Thürmer
Nach dem Tod eines Freundes begann Christine Thürmer mit dem Langstreckenwandern. © Peter von Felbert
Auf dem Weg zu Gott
07:02 Minuten
Wenn beim Wandern die Füße ihren Weg problemlos finden, haben die Gedanken Gelegenheit, überall hin zu schweifen. Die Weitwanderin Christine Thürmer empfindet dabei vor allem überquellende Dankbarkeit.
„Eigentlich vergeht kaum ein Tag, an dem ich mich nicht abends ausstrecke und vor lauter Dankbarkeit so überquelle, dass ich vor lauter Begeisterung richtig 'Danke, danke, danke' schreien könnte, weil ich glaube - ja! - was für ein tolles Leben ich einfach habe.“
Was Christine Thürmer so in Euphorie versetzt, ist das Langstreckenwandern. Etwa die Hälfte des Jahres läuft sie mehrere tausend Kilometer. Seit 16 Jahren bewältigt die heute 54-Jährige solche langen Wege und hat dabei eine Art spezieller Körper- und Lebensschule absolviert.
„Ich habe nur fünf Kilo Ausrüstung dabei. Dazu kommen noch Wasser und Proviant. Im Prinzip fällt alles, was ich dabei habe, unter eine von vier Kategorien: Wasser, Proviant, Wärme und Wetterschutz. Mehr brauche ich letztendlich nicht. Bei allem anderen, was wir im normalen Leben sonst noch haben, erkennt man plötzlich wieder, das ist 'nice to have', aber überhaupt nicht überlebensnotwendig. Diese fünf Kilo reichen aus, um damit monatelang durch ganze Kontinente zu wandern. Das macht einen plötzlich wieder sehr demütig und vor allem sehr zufrieden mit dem, was man hat.“
Unterwegs findet jedes Problem eine Lösung
Wetter aller Art trotzen, das Ziel nicht aufgeben, alle Mühen des Weges meistern, das Hochgefühl, wenn es sich beinahe von selbst läuft – bei all dem lernt man den eigenen Körper kennen. Es zeigt sich: Es ist Verlass auf ihn. Das stärkt das Selbstvertrauen.
Ebenso zeigt sich: Was immer an Widrigkeiten unterwegs auftaucht, es findet sich eine Lösung. Vor diesem Hintergrund verlieren frühere Sorgen und Probleme an Gewicht. Das alles befreit und beflügelt. Christine Thürmer hat so, sagt sie, wieder Gottvertrauen gelernt.
"Man hat relativ wenig Ablenkungen, dadurch kann man sich quasi auf sich selber konzentrieren. Man hat plötzlich wieder Gedankenfreiheit. Man hat plötzlich wieder Zeit, wirklich die Gedanken hemmungslos frei schweifen zu lassen. Ich genieße das total: über das nachdenken zu können, worauf ich Lust habe."
Ihre Dankbarkeit richtet sie an Gott
Das sind für Christine Thürmer die großen philosophischen Fragen: Gibt es einen Gott? Was ist der Sinn des Lebens? Fragen wie diese gehen in der Regel im Alltag unter. Beim monatelangen Wandern ist dafür wieder Zeit und Muße.
Christine Thürmer genießt das und kehrt so in gewisser Weise in ihre Jugend zurück, in der sie solche Fragen gern bewegt hat. Damals trat sie aus der katholischen Kirche aus. Nun hat sie den abgelegten Glauben beim Wandern neu gefunden:
„Bei mir war das eigentlich das übersprudelnde Glück. Ich liege abends in meinem Zelt, bin so begeistert von meinem Leben, dass ich denke: 'Wie toll ist das denn?' Und quelle quasi über vor Dankbarkeit. Diese Dankbarkeit setzt aber voraus, dass man sich bei jemandem bedankt. Und dieser jemand, drängte sich natürlich auf, das ist Gott. Diese wirklich übersprudelnde Dankbarkeit war mein Zugang zurück zum Glauben.“
Die Kraft der Natur – und ihre Tücken
Den Zugang zum Langstreckenwandern fand Thürmer durch die Begegnung mit Menschen, die diese ungewöhnliche Form, unterwegs zu sein, bereits praktizierten. Sie lernte sie im Urlaub in Kalifornien kennen und war fasziniert. Dann verlor die erfolgreiche Unternehmenssaniererin überraschend ihren Job.
Die Geschichte des Wanderns beginnt im 18. Jahrhundert – als Freizeitvergnügen des Bildungsbürgertums. Nach dem Zweiten Weltkrieg hingegen galt es lange als spießig. Nun erlebt es einen neuen Boom. Warum aber treibt es die Menschen hinaus in die Natur? Lesen und hören Sie dazu auch ein Feature von Georg Gruber.
Als kurz darauf ein Freund an den Folgen mehrerer Schlaganfälle starb, entschloss sie sich, ihr Leben zu ändern. Sie machte ihre erste Langstreckenwanderung: den gut 4000 Kilometer langen Pacific Crest Trail vom Norden Mexikos bis zur Grenze Kanadas.
Seitdem ist sie viele solcher Wege gewandert, überall auf der Welt. Neben der Kraft der Natur und ihrer wohltuenden Wirkung erfuhr sie dabei auch ihre Ehrfurcht gebietende, bedrohliche Seite:
„Wenn man mal mit dem Grizzlybären Aug‘ in Aug‘ stand oder wenn man mal wirklich den Berg um sein Leben gerannt ist, weil ein Gewitter anzieht und man einfach runter kommen muss, weil Lebensgefahr besteht – da wird man unglaublich demütig. Man erkennt, dass man eben nicht die Spitze der Nahrungskette ist. Man ist einfach nur ein Spielball der Natur. Das erdet einfach ungemein."
Außerdem findet sie es "immer sehr bedenklich, wie wichtig sich Menschen heutzutage nehmen. Wie sehr sie glauben, dass sie alles beeinflussen können."
Der kleine Mensch vor der Größe und Gewalt der Natur - das zu erleben, gehört neben dem Glücksgefühl, das Christine Thürmer beim Wandern ergreift, zum neu erfahrenen Glauben.
Unterwegs hört sie Hörbücher
Um sich für das Umherschweifen der Gedanken unterwegs Anregung zu holen, hört sie Hörbücher. Bevorzugt thematisch zur Landschaft passende. Auf dem Florida Trail war es das Nibelungenlied.
„Ich war lustigerweise in Florida unterwegs. Um mich herum tummelten sich also alle möglichen Alligatoren. Als ich dann hörte, wie Siegfried den Drachen schlug und das Lindenblatt auf ihm landete, watete ich selber durch die Sümpfe. Um mich herum die Alligatoren, das war schon sehr kurios.“
Der Tod als letzte Wanderung
Wenn die „meistgewanderte Frau der Welt“, wie sie genannt wird, nicht zu Fuß die Welt erkundet, hält sie Vorträge oder schreibt Bücher darüber.
Immer wieder denkt sie daran, was der Haupt-Auslöser für ihr glückliches Wanderleben war: der plötzliche Tod eines Freundes. So hat sich die Langstreckenwanderin vorgenommen, Menschen auf ihrem letzten Weg zur Seite zu stehen und eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin zu machen.
„Sterben und Tod - das ist die letzte große Reise. Reisen ist mein Thema. Und wie immer möchte ich auch auf diese letzte große Reise gut vorbereitet sein, deswegen die Ausbildung zur Sterbebegleiterin.“