Christine Wolter: "Die Alleinseglerin"

Ein Kultroman aus der späten DDR

05:34 Minuten
Das Cover vo "Die Alleinseglerin" zeigt eine Frau mit einem schwarzen, schulterfreiem Kleid, welche sich mit einer Maske das Gesicht bedeckt.
© Ecco Verlag

Christine Wolter

Die AlleinseglerinEcoo, Hamburg 2022

206 Seiten

22,00 Euro

Von Helmut Böttiger · 31.10.2022
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Sie segelt allein, gegen alles Vernünftige, für die zweckfreie Schönheit und Freiheit. 1982 war Christine Wolters Roman eine Kampfansage gegen die normierte DDR-Gesellschaft. Jetzt wird er neu entdeckt.
„Die Alleinseglerin“ war 1982 in der DDR ein Coup. Eine Frau, allein mit ihrem Segelboot auf einem brandenburgischen See unterwegs, entzieht sich den vorgegebenen Normen. Sie nimmt ihr Leben selbst in die Hand. Und dass sie eine alleinerziehende Mutter ist und ihre Männerbeziehungen lose, entsprach der Realität der DDR weitaus eher als die Darstellung in den offiziellen Medien.

Alleinseglerin auf dem Drachenboot

Das Bild der Alleinseglerin mit ihrem schönen weißen Drachenboot war so suggestiv, dass Herrmann Zschoche den Stoff für einen Film aufgriff und die Titelfigur mit der Schlagzeugerin der DDR-Frauenband „Mona Lise“ besetzte: Tina Powileit verlieh mit ihrer Aura der Rockmusikerin der Heldin des Buches, der Literaturwissenschaftlerin Almut, einen spezifisch rauhen, melancholischen Charme. Sie machte damit den Film zu einer bleibenden Chiffre für das widerspenstige Lebensgefühl in den späten Jahren der DDR.
Die Wiederentdeckung durch den Ecco-Verlag, der den Roman jetzt neu herausbringt, schließt daran an.   

Blick aus der italienischen Ferne

Die damalige Verfilmung klammerte allerdings etwas aus, was dem Roman eine ganz besondere Färbung verleiht. Die Ich-Erzählerin Almut schreibt nämlich aus Italien, sie blickt aus dem südlichen Mailand auf ihr Leben in der DDR zurück. Das entsprach der realen Biografie der Autorin Christine Wolter, die 1978 im Alter von 38 Jahren legal aus der DDR nach Italien ziehen konnte. Sie hatte dort auf einer Dienstreise als Romanistin einen Architekten kennengelernt und geheiratet, brach ihre Brücken in die DDR aber nicht ab und veröffentlichte dort weiter ihre Bücher.

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Der Ton der „Alleinseglerin“, der das Leben am märkischen See mit kurzen Momentaufnahmen aus Mailand konfrontiert, bekommt durch die italienische Distanz etwas ganz Eigenes und Schwebendes, und der Reiz des Textes liegt auch in dieser völlig ungewohnten Konstellation: Im winterlichen Mailand sehnt sich Almut nach der spröden, kargen Landschaft der Mark mit ihren Kiefern und nach ihrem Segelboot.

Selbstverwirklichung als Kritik

Almuts Kindheit wurde geprägt vom sommerlichen Leben mit ihrem Vater am See. Der vergleichsweise schwierig zu lenkende, aber ästhetisch alle anderen Boote überragende Drachen war sein größtes Hobby. Nach dem Tod des Vaters setzt sie sich in den Kopf, das kostspielige Boot zu übernehmen und viel Zeit und Energie für dessen Unterhalt und Wartung aufzubringen – etwas, was sie sich als geisteswissenschaftliche Doktorandin eigentlich gar nicht leisten kann. Sie muss sich dabei auch gegen die in sich geschlossene Männerwelt am See behaupten.
Dennoch wäre es falsch, die „Alleinseglerin“ mit dem Feminismus der damaligen Bundesrepublik gleichzusetzen, dazu ist alles zu sehr auf die spezifischen DDR-Verhältnisse bezogen.

In die Freiheit, hart am Wind

Es geht in erster Linie um individuelle Selbstverwirklichung gegen starre gesellschaftliche Normen, und die zentrale Rolle spielt dabei interessanterweise die emphatische Besetzung der Kunst: Das Segelboot steht, als Kampfansage gegen äußerst realistisch gezeichnete SED-Funktionäre, für eine nicht zweckgebundene Schönheit. Der weiße Drachen, das „illusorischste aller Besitztümer“, ist mit seiner komplizierten Handhabung und eleganten Erscheinung ein großes Gegenbild zu den „Jollen mit den Familienvätern“, er setzt sich über alles Praktische und vermeintlich Vernünftige hinweg.
Christine Wolter gelingt damit wie nebenbei eine vielschichtige Metapher für Sehnsucht und Entgrenzung: „Weg vom Ufer, ins offene Wasser“ – in die Freiheit, hart am Wind.
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