Ulrich Willems, Viola van Melis, Daniel Gerster (Hg.): Religionspolitik heute. Problemfelder und Perspektiven in Deutschland
Herder Verlag, Freiburg 2018
464 Seiten, 40 Euro
Wie hält der Staat es mit den Religionen?
Die Zahl der Christen in Deutschland sinkt. Aber viele Gesetze stammen noch aus den 1950er-Jahren, als 96 Prozent der Deutschen einer christlichen Kirche angehörten. Sind sie noch zeitgemäß? Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Ulrich Willems.
Christopher Ricke: Die Vielfalt der Religionen ist unser Thema heute Nachmittag. Politisch ist diese Vielfalt in Deutschland eher schlecht abgebildet. Das könnte ein Problem sein. Unsere gesetzlichen Grundlagen sind Jahrzehnte alt, damals waren 96 Prozent der Deutschen Christen. Ich habe mit Ulrich Willems gesprochen. Der Politikprofessor an der Uni Münster ist der der Herausgeber des Buchs "Religionspolitik heute". Herr Willems, die Religionsfreiheit steht in der Verfassung, ganz aktuell der Koalitionsvertrag, Zitat: "Auf Basis der christlichen Prägung unseres Landes setzen wir uns für ein gleichberechtigtes gesellschaftliches Miteinander in Vielfalt ein." Warum reicht das nicht als Update für das 21. Jahrhundert?
Ulrich Willems: Das reicht deshalb nicht, weil wie Sie ja in Ihrer Anmoderation schon erwähnt haben, wir eine sehr deutliche Veränderung der religiösen Landschaft haben. Sie haben die Zahlen erwähnt aus den 50er-Jahren, über 96 Prozent waren Mitglied der beiden großen christlichen Kirchen. Man könnte also von einer religiös homogenen Gesellschaft sprechen. Heute sind weit über ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik konfessionslos, die Muslime bilden mit 5 Prozent die größte Minderheitsreligion. Und das Problem besteht darin, dass zum einen viele der Regeln, die wir haben, eben auf die Situation einer religiös homogenen Gesellschaft zugeschnitten sind. Aber das ist es nicht allein.
Privilegien trotz Trennung von Kirche und Staat
Es kommt hinzu, dass zu Beginn der Bundesrepublik, als diese religionspolitische Ordnung beschlossen wurde, es einen massiven Konflikt gab zwischen denjenigen Kräften, die eine strikte Trennung von Staat und Religion, Staat und Kirche, durchsetzen wollten wie in Frankreich, und den Kräften, die vor dem Hintergrund der Erfahrung des Nationalsozialismus glaubten, dass nur eine Verchristlichung, eine Wiederverchristlichung der Gesellschaft ein Bollwerk gegen die Entartung in den Totalitarismus aufrichten könnte. Diese Fraktion hat damals versucht, etwa die Konfessionsschule zu verankern, um eine religiöse Bildung in der Schule schon einrichten zu können. Damals hat man einen Kompromiss gefunden, aber in vielen Ländern hat sich diese Fraktion durchgesetzt, vor allem in den ehemals mehrheitlich katholischen Ländern im Süden und Westen der Republik, und dementsprechend finden sich viele Spuren einer religiös-christlich-großkirchlichen Bevorzugung oder Privilegierung in unseren religionsrechtlichen Regelungen.
Und als drittes kommt hinzu, Sie finden diese Formulierung im Koalitionsvertrag, wenn Sie in die Wahl- und Parteiprogramme vor allem der großen Parteien der letzten zehn, 20 Jahre hineinsehen, werden Sie finden, dass die Herausforderungen, die aus der religiösen Pluralisierung resultieren, um etwa eine gleichberechtigte Integration sowohl der Konfessionslosen als auch der Muslime in die religionspolitische Ordnung zu gewährleisten, dass sich dazu nichts findet. Man könnte sagen, die CDU plädiert für ein beherztes "Weiter so!", ohne die Probleme wirklich zur Kenntnis zu nehmen, und bei der SPD gibt es so etwas wie ein freundliches Desinteresse an diesen Fragen.
Beispiel Kopftuchstreit
Ricke: Jetzt gibt es ja immer wieder Probleme, aber die werden ja auch immer wieder gelöst. Probleme gibt es ja dann, wenn Ansprüche aufeinanderprallen, die unvereinbar sind. Ich nehme mal das Kopftuch-Thema. Da haben wir auf der einen Seite das Recht auf freie Religionsausübung, auf der anderen Seite das Neutralitätsgebot des Staates, dann gibt es einen Konflikt, das beschäftigt die Gerichte, und dann gibt es doch auch immer eine Lösung.
Willems: Interessanterweise gerade in dieser Frage wird die Lösung eben nicht von der Politik gefunden, deren Aufgabe in der Demokratie es doch gerade wäre, beim Aufeinandertreffen von schwer miteinander zu vereinbarenden Ansprüchen - das ist ein normativer Konflikt, den Sie gerade geschildert haben - nach einer Kompromisslösung zu suchen, wenn man so will. Die zentrale Funktion der Demokratie ist sicherlich einerseits auch einseitige Entscheidungen in der Sache, Mehrheitsentscheidungen. Aber im Wesentlichen ist das Wesen der Demokratie bei solchen schwierigen Fragen der Kompromiss. Und die Politik war dazu nicht in der Lage und deswegen musste in vielen Punkten, gerade auch die Kopftuchfrage, das Bundesverfassungsgericht entscheiden, also das Rechtssystem.
Ich will Ihnen an der Kopftuchfrage noch mal deutlich machen, wo das Problem besteht. Wenn Sie sehen, die Vielzahl von Verboten des Kopftuches in einzelnen Bundesländern ab Mitte der 2000er-Jahre, dann ist das in der Regel ein einseitiges Verbot des islamischen Kopftuchs gewesen. Das ist das Problem dieser Gesetze gewesen, denn unsere religionspolitische Ordnung und die Regeln des Grundgesetzes gewähren gleiche Religionsfreiheit. An diesen Begründungen dieser Gesetze kann man auch noch mal deutlich machen, warum diese Passage mit der christlichen Kultur als Hintergrund für unsere religionspolitischen Probleme so problematisch ist.
Gott in der Präambel
Der Gesetzentwurf von CDU und FDP im niedersächsischen Landtag, der dann zu einem Kopftuchverbot geführt hat, wurde begründet damit, dass Gott in der Präambel auftaucht und dass sich christliche Erziehungsziele finden. Also, das einseitige, selektive Verbot des Kopftuches wurde mit dem christlich-kulturellen Hintergrund begründet.
Ricke: Es wurde versucht, das durchzubringen, das hat ja nicht geklappt.
Willems: In Niedersachsen ist ein Kopftuchgesetz beschlossen worden daraufhin. Niedersachsen gehört ja mit zu den Ländern und das Bundesverfassungsgericht hat 2015 etwa zum nordrhein-westfälischen Kopftuchgesetz, das sich dann im Schulgesetz fand, auch ein einseitiges Verbot, gesagt, um was es sich handelt: um eine eindeutige Privilegierungsvorschrift, nämlich des Christentums.
Insofern darf man immer nicht vergessen, diese Formel mit der christlichen Kultur hat in unserer heutigen Situation immer das große Problem, dass es auch ein Signal der Ausgrenzung ist. Nicht umsonst greifen rechtspopulistische Bewegungen quer durch Europa auf ein kulturelles Verständnis des Christentums zurück, weil das, wenn man so will, die klarstmögliche Abgrenzung gegenüber dem Islam ist.
Gesetzliche Lösung im Beschneidungsstreit
Ricke: Jetzt beklagen Sie ja eine mangelnde Handlungsbereitschaft bei der Politik. In der jüngeren Vergangenheit haben wir aber auch noch ein anderes Beispiel gehabt, das war die Beschneidungsdebatte in 2012. Da hat dann wirklich die Kanzlerin persönlich eingegriffen, da hat der Bundestag die Beschneidungserlaubnis ausdrücklich ins Gesetz geschrieben. Da war ja großer Handlungsbedarf. Braucht es diesen Druck, damit Politik überhaupt ins Handeln kommt?
Willems: Lassen Sie uns noch mal ein kleines Gedankenexperiment machen, mit Blick auf die Beantwortung dieser Frage. Stellen Sie sich vor, es gäbe das Judentum in Deutschland nicht, es hätte den Nationalsozialismus und den Genozid an den Juden nicht gegeben. Glauben Sie, dass der Bundestag 2012 nach einjähriger Debatte ein Gesetz beschlossen hätte, das die Beschneidung eingeführt hätte, wenn nur die Muslime davon betroffen wären? Dieses Gesetz erklärt sich nicht durch Handlungsdruck, sondern erklärt sich durch die besondere deutsche Geschichte und die besondere Verantwortung gegenüber den jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik. Ich glaube, dass die Geschichte in einem anderen Szenario ganz anders ausgegangen wäre.
Ricke: Aber was ist zu tun, Privilegien abbauen oder Nachteile ausgleichen?
Willems: Ich glaube nicht, dass der Weg, Privilegien drastisch einzuschränken, der richtige ist. Das erfordert bei den Organisationen, die jetzt davon profitieren, also nehmen Sie etwa den Körperschaftsstatus für die großen christlichen Kirchen und viele weitere, das sind ungefähr 280 Organisationen in der Bundesrepublik, die den Körperschaftsstatus haben. Das würde massive Umbauten erfordern, die gesamte Organisationsstruktur der großen Kirchen würde ohne die Kirchensteuer zusammenbrechen. Deswegen ist meines Erachtens der Weg, den neu hinzugekommenen religiösen Traditionen Möglichkeiten zu verschaffen, dass sie aufschließen können, ihnen in gewisser Weise Angebote zu machen.
Es geht um öffentliche Anerkennung
Im Moment sieht das aber in der Debatte so aus, dass man immer nur sagt, ihr müsst euch ändern, ihr müsst in gewisser Weise die Voraussetzungen schaffen – und es fehlen die Angebote vonseiten der Politik, die auch auf diese neuen religiösen Traditionen zugehen und ihnen in gewisser Weise helfen, die Probleme zu bearbeiten.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Beim Körperschaftsstatus, der unter anderem dann mit dem Recht auf den Kirchensteuereinzug verbunden ist, geht es, glaube ich, bei den Muslimen gar nicht so sehr um die Möglichkeit eines Kirchensteuer- oder Moscheesteuereinzugs, sondern es geht um die öffentliche Anerkennung dabei. Das kann man symbolisch sehr einfach herstellen, wie das etwa die Bundesländer oder die Stadtstaaten Hamburg und Bremen getan haben, die mit muslimischen Organisationen Verträge abgeschlossen haben, was in gewisser Weise eine Form von Anerkennung ist.
Umgekehrt ist es so, dass man sich ja auch vorstellen könnte, wenn denn – und das wäre tatsächlich so –, wenn die muslimischen Organisationen, auch um mehr Organisation haben zu können, um diese vielfältigen Kooperationsangebote überhaupt wahrnehmen zu können, die es etwa bei Religionsunterricht mit den Beiräten gibt, könnte man sich ja auch Angebote des Staates vorstellen, diesen Organisationen bei der Organisation durch finanzielle Förderung zu helfen. Solche Angebote fehlen bisher.
Was ist mit den christlich-jüdischen Wurzeln?
Ricke: Aber was ist denn mit den viel beschworenen christlich-jüdischen Wurzeln unserer Gesellschaftsordnung? Wir sind ja nicht so schlecht gefahren, müssen wir die ausreißen?
Willems: Ausreißen müssen wir sie nicht, aber ehrlich gesagt, wenn wir einen langen Blick zurück in die Geschichte werfen, dann muss man einfach sagen, dass auch die christlich-jüdischen Wurzeln eben sehr ambivalent sind. Sie hätten von den positiven Folgen der christlich-jüdischen Wurzeln nicht während der Zeit der Inquisition geredet. Viele moderne Rechte, die Religionsfreiheit, sind gegen die christlichen Kirchen erkämpft worden. Und auch die Rede von der christlich-jüdischen Kultur, ehrlich gesagt, wir reden über die christlich-jüdische Kultur seit 1945. Wenn Sie ins 19. Jahrhundert und in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts sehen, dann haben wir einen ganz starken Antisemitismus, Antijudaismus.
Also, diese Formel von der christlich-jüdischen Kultur, die klingt erst mal so einleuchtend, und natürlich hat das Christentum und das Judentum viel zur Entwicklung, auch zu den normativen Prinzipien der modernen Welt beigetragen, aber vieles musste auch gegen sie erkämpft werden, und Europa ist immer ein pluralistischer Kontinent gewesen, war immer geprägt durch die Auseinandersetzung mit dem Anderen, lange auch mit dem Islam. Das ist eine mal feindliche, mal freundliche Auseinandersetzung gewesen, aber so wie Sie etwa die Geschichte der Bundesrepublik nicht erzählen können, ohne sie als Beziehungsgeschichte mit der DDR zu schreiben, so können Sie in gewisser Weise auch die Geschichte Europas und auch des europäischen Christentums auch nicht ohne die Beziehungsgeschichte etwa zum Islam schreiben.
Ricke: Ulrich Willems, der Politikprofessor an der Uni Münster ist der Herausgeber des Buchs "Religionspolitik heute", es ist bei Herder erschienen. Vielen Dank, Professor Willems!
Willems: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.