Der Tod als Moment der Wandlung
Der evangelische Pfarrer Thomas A. Seidel vergleicht mit Martin Luther das Ende des Lebens mit der Geburt. Er erklärt, unter welchen Umständen auch Trauerfeiern für Nichtchristen in Kirchen gehalten werden können.
Anne Françoise Weber: Die Auferstehung der Toten ist ein zentraler Glaubensinhalt des Christentums, dessen Gründer Jesus ja "durch den Tod gegangen ist", wie es in der Kirchensprache heißt. Dass der Auferstehungsglaube in den frühen Gemeinden nicht selbstverständlich war, zeigt der erste Brief des Apostel Paulus an die Korinther. Darin erläutert Paulus der jungen Gemeinde diese Lehre noch einmal. "Tod, wo ist dein Stachel?" ist ein berühmter Satz des Paulus, vielleicht haben Sie ihn aus dem "Deutschen Requiem" von Johannes Brahms im Ohr. Aber was verbirgt sich dahinter? Was bedeutet diese Frage bei Paulus, und vor allem: Was bedeutet sie für einen Pfarrer, der am Bett eines Sterbenden steht? Fragen, die ich mit Thomas A. Seidel besprechen möchte.
Er ist evangelischer Pfarrer, geschäftsführender Vorstand der Martin Luther Stiftung und noch bis Mitte nächsten Jahres Reformationsbeauftragter der thüringischen Landesregierung. Er hat ein Buch mitherausgegeben, es heißt: "Tod, wo ist dein Stachel? Todesfurcht und Lebenslust im Christentum." Vor der Sendung habe ich mit Thomas A. Seidel gesprochen und ihn zunächst gefragt: Bei Paulus heißt es, "Wir werden nicht alle entschlafen, aber wir werden alle verwandelt werden." Da klingt die Naherwartung der ersten Christen durch, die davon ausgingen, dass das Weltende und die Rückkehr Jesu kurz bevorstünden. Diese Einstellung klingt heute auch für christliche Ohren fremd. Ist es trotzdem ein zentraler Text, wenn es um eine christliche Haltung zum Tod geht?
Thomas A. Seidel: Ganz selbstverständlich bleibt er das. Und wir können auch sagen, dass es nicht allein um diese Naherwartung geht, sondern das Thema der Verwandlung, der Wandlung, der Transformation ist das Thema des Christenlebens überhaupt – ob in der Eucharistie, im Abendmahl, wie auch in der Lebenspraxis –, die Verwandlung von einer bloß, sagen wir mal, irdisch-biologischen Existenz hin zu einer geistig-gläubigen Existenz, einer Neuwerdung, einer Wandlung eben.
Weber: Und dann ist der Tod sozusagen der Wandlungsmoment, vor dem man sich aber nicht mehr fürchten muss?
Seidel: Das könnte man so sagen, ja. Für Martin Luther ist es so, dass er uns anempfiehlt, auf den Pfaden der Mystik zu wandeln, um mal diesen Begriff wieder aufzunehmen. Und er empfiehlt uns, wenn man so will, eine Einbildungskraft, mit der wir uns dem Tode nähern, wie überhaupt allen Phänomenen, die uns vielleicht auch bedrängen. Mit Blick auf den Tod empfiehlt er uns, dass wir uns das Bild der Geburt vor Augen führen, also der Beginn unseres Daseins, wie wir durch einen Geburtskanal hinein in eine weitaus größere Welt gelangen. Und so, wie wir ganz am Beginn unseres Lebens kaum eine Vorstellung davon haben können, wie es denn mal aussieht sozusagen nach neun Monaten Mutterleib, dann eben in einer Welt, die viel heller und größer ist, als wir es uns je gedacht haben, uns nun wiederfinden, so wird es in der zweiten Geburt auch sein. Und deswegen, sagt Martin Luther, heißen die Geburtstage der Heiligen nach ihrem Todestag.
Weber: Weil das eben der Übergang in diese neue Welt ist. Trotzdem bleibt dieser Tod ja einfach ein furchtbarer Moment, für die Angehörigen und möglicherweise auch für den Sterbenden. Mit allem christlichem Zuspruch, den man da haben kann, selbst wenn man Theologie studiert hat und in seinem Glauben fest verankert ist - wenn man am Bett eines Sterbenden steht, ist das nicht trotzdem ein sehr schwieriger Moment, wo man diesen Satz "Tod, wo ist dein Stachel?" einfach nur als Hohn empfinden kann?
Der Tod als Angriff auf die Person
Seidel: Das ist ganz sicher so. Und ich selber und viele andere Menschen, die diese Erfahrung gemacht haben, werden auch den Schmerz spüren, der ja mit dem Abschied zusammenhängt. Und der Tod ist übrigens auch nach Martin Luther und vielen anderen großen Theologen nicht einfach nur das Ende des biologischen Seins, sondern es ist, wenn man so will, ein Angriff auf die Person, auf den Menschen selber. Es stellt ja unsere ganzen Sinne und unseren Verstand auf eine solche Prüfung, die eben kaum mit einer anderen verglichen werden kann. Insofern ist die Vorbereitung auf das Sterben – die ars moriendi nannte man das mal, die Kunst des Sterbens – eine ganz wichtige Aufgabe, eine Kunst, die heute kaum geübt wird.
Weber: Sie sagen es schon, der Tod hat in unserer Gesellschaft ja nur ganz bestimmte Plätze. Natürlich gibt es Filme oder Horrorliteratur, wo damit ganz stark gespielt oder umgegangen wird, aber gleichzeitig haben wir in unserem Alltag das ja doch alles eher verdrängt. Wer ist schon mit einem Sterbenden zusammen, wer pflegt schon jemanden bis zum Tod? Wie ist das in der Kirche? Hat man da auch ein Stück weit den Umgang mit dem Tod verlernt?
Seidel: So pauschal würde ich das nicht sagen. Aber es ist doch zu bemerken, dass – ich spreche jetzt mal nur für die evangelische Kirche, soweit ich sie überblicken kann – vielfach diese Existenzialia, also diese ganz zentralen Fragen unseres Daseins, ein wenig ein Randdasein spielen, während aktuell ethisch-moralische, politische Themen im Vordergrund stehen. Insofern glaube ich, dass die Frage des ganz alltagspraktischen Umgangs auch mit dem Thema des Abschieds, des Sterbens aus meiner Sicht viel stärker wieder oder immer noch in den Mittelpunkt des christlichen Alltags, aber eben auch der Gottesdienste gehört. Ich bin aufgewachsen in einer lutherischen Gemeinde in Sachsen, wo dieses Memento mori – "Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden", aus dem Psalm 90 – in jedem Gottesdienst im Zusammenhang des Gebetes für die Verstorbenen vorkam. Und dies ist nicht nur sozusagen ein einfacherer Satz, sondern ein sehr kluger Wegweiser.
Weber: Das Buch "Tod, wo ist dein Stachel?", das Sie mitherausgegeben haben, ist ja entstanden aus einem Konvent, also einer Zusammenkunft der evangelischen Bruderschaft St.Georgs-Orden, deren Spiritual, also geistlicher Begleiter Sie sind. Haben Sie sich in der Bruderschaft dieses Thema vorgenommen, weil Sie eben den Eindruck hatten, wir müssen das aufgreifen, wir müssen das wieder stärker in unsere Kirche bringen?
Seidel: Es gehört zu den Grundanliegen dieser evangelischen Bruderschaft in der Tat, Themen, die wir für zu wenig behandelt sehen, in den Mittelpunkt zu rücken. Wir hatten vor knapp zehn Jahren eine Tagung zum Thema "Maria, evangelisch", also welche Rolle spielt die Gottesmutter Maria für den Glauben der Christenmenschen, in dem Fall für die evangelische Christenheit, in Deutschland vor allem. Und so eben auch mit diesem Thema wollen wir dazu anregen, dass da nicht nur ein neues Nachdenken einfach einsetzt, sondern dass eben das in den Mittelpunkt auch unseres liturgischen und auch ganz praktischen Glaubenslebens gehört.
Trauernde begleiten ist eine Tat der Barmherzigkeit
Weber: Eine ganz praktische Frage, die Sie da ja auch ansprechen, ist die, wie man mit der Bestattung von Nichtchristen umgeht. Gerade im Gebiet der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, in der Sie tätig sind, ist ja der Anteil der Konfessionslosen ziemlich groß. Sie plädieren dafür, dass in Kirchen auch nichtchristliche Trauerfeiern stattfinden können. Warum?
Seidel: Das kann man natürlich nicht so umstandslos sagen, sondern wir plädieren dafür… das war eine Arbeitsgruppe, die eingesetzt wurde von den vormaligen Bischöfen Christoph Kähler und Axel Noack, die damit umgehen sollte, dass es auf dem Gebiet der Neuen Kirche in Mitteldeutschland eben unterschiedliche Formen des Umgangs zu dieser Frage gab und zum Teil eben auch heute noch gibt. Wir plädieren dafür, dass so etwas geöffnet werden kann, allerdings unter der Bedingung oder der Voraussetzung, dass sich die Kirche, die Kirchgemeinde, insbesondere natürlich der Gemeindekirchenrat jeweils als die Gruppe versteht, die ihre Kirche als ein Ort der Fürbitte und eben auch eine Tat der Barmherzigkeit –Trauernde begleiten und Tote beerdigen ist eine Tat der Barmherzigkeit –, dass dafür eine Offenheit besteht.
Die bisherigen Regelungen oder bisherigen Beschlüsse, soweit ich sie kenne, stellen sehr stark auf den Pfarrer oder die Pfarrerin ab und grenzen sich sozusagen ab gegenüber diesem Markt an freien Trauerrednern. Das ist teilweise nachvollziehbar. Worauf es uns allerdings ankommt, ist ein Perspektivwechsel hin zu dem, was Luther das Priestertum aller Getauften nennt. Das heißt, dass die Gemeinden selber ihre Kirche – natürlich auch nach einer Beratung und nicht einfach so – öffnen, wenn denn auch Nichtgetaufte oder Nichtkirchenmitglieder akzeptieren, dass das ein besonderer Ort ist, wenn sie akzeptieren, dass dort kein Kreuz verhängt wird oder dergleichen, und dass vielleicht ein Kirchenältester – das muss kein Pfarrer sein – am Beginn begrüßt, etwas sagt zu dem Namen dieser Kirche, und auch sein Beileid ausspricht, sozusagen eine Kondolenzbezeugung, sodass eine Achtung sowohl vor dem Raum selber als auch vor dem, wofür dieser Raum, eine Kirche, auch mal gebaut wurde, besteht. Und diese Gäste müssen dann auch einwilligen darin, dass für ihre Verstorbenen die Kirchgemeinde eine Fürbitte hält an einem der folgenden Sonntage zum Beispiel, und dass sie natürlich dann auch bereit sind, dafür auch Geld zu geben, eine Spende, über die man natürlich im Gespräch dann auch reden muss.
Kirchen als Räume des Außerordentlichen öffnen
Weber: Das heißt, es gibt Menschen, die sagen, wir möchten gerne unseren konfessionslosen Angehörigen in einer Kirche, na ja, nicht bestatten, aber die Trauerfeier für ihn in der Kirche abhalten. Tun das die Menschen, weil es keinen anderen geeigneten Ort gibt, also einfach von der Größe oder Aufmachung? Tun sie es, weil da doch eine gewisse Sehnsucht ist nach einem religiösen Rahmen? Tun sie es, weil sie nicht so sicher sind, ob vielleicht der Angehörige sich das doch gewünscht hätte? Was ist da Ihre Erfahrung?
Seidel: Ich nehme an, dass es sehr unterschiedliche Motive dafür gibt. Manchmal ist es einfach nur der praktische Grund, dass eben in einem Dorf die Kirche bei einer großen Beerdigung - wenn es ein Mensch war, der auch sozusagen in der Öffentlichkeit ein Ansehen hatte - der größte Raum für so etwas ist. Kann sein, dass dann eben manchmal auch dieses mitschwingt, dass dieser Raum etwas Besonderes ist. Und ich glaube, es geht insgesamt nicht nur für der Kirche entfremdete Menschen, sondern überhaupt für Menschen, auch für die Christenmenschen selber wieder darum, diese Räume des Außerordentlichen, diese Räume der Einkehr, diese Räume des Gebetes und der Meditation wieder als besondere Räume wahrzunehmen und als besondere Räume auch zu pflegen und zu öffnen.
Weber: Vielen Dank, Thomas A. Seidel, evangelischer Pfarrer, geschäftsführender Vorstand der Internationalen Martin Luther Stiftung und zusammen mit Ulrich Schacht Mitherausgeber des Buchs "Tod, wo ist dein Stachel? Todesfurcht und Lebenslust im Christentum", erschienen bei der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig, 280 Seiten, 24 Euro.
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