Christoph Hein: Trutz
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017
476 Seiten, 25,00 Euro
Menschen sind Statisten im Weltgeschehen
Christoph Hein schreibt in seinem neuen Roman "Trutz" über das Leben zweier Familien während des 20. Jahrhunderts. In der Chronik der Lebensläufe bündelt er die vergebliche Hoffnung auf eine Existenz jenseits von Unterdrückung und Ausbeutung.
Anders als Konstatin Boggosch, der sich in "Glückskind mit Vater" (2016) nicht an die Vergangenheit erinnern will, ist die Hauptfigur in Christoph Heins neuem Roman ein wahrer Erinnerungsspezialist: Er kann nichts vergessen.
Bereits als Kind wird Maykl Trutz mit den Geheimnissen der Mnemotechnik vertraut gemacht. Kein Geringerer als Waldemar Gejm, der in Moskau als der Spezialisten für die Mnemonik gilt, unterrichtet ihn in dieser auf Simonides von Keos zurückgehenden Kunst des Erinnerns.
Eine Jahrhundertchronik
Christoph Hein erzählt in "Trutz" aus der Perspektive des nüchtern berichtenden Chronisten die Geschichte zweier Familien, die Opfer eines mörderischen Jahrhunderts werden. Dabei drängen sich im Roman immer wieder die historischen Ereignisse in den Vordergrund, sodass es den Anschein hat, als wären sie es, die statt des Erzählers den Historiker geradezu auf den Plan rufen.
Gudrun und Rainer Trutz fliehen in den dreißiger Jahren aus Deutschland, weil sie nach Hitlers Machtergreifung in ihrem Heimatland nicht mehr bleiben können. Aber die Annahme, sie würden in der Sowjetunion sicher sein, erweist sich als Trugschluss: Sie werden Opfer der dort Ende der dreißiger Jahre einsetzenden stalinistischen Säuberungsprozesse.
In Stalins Straflager
Rainer Trutz kommt in ein Arbeitslager, in dem er noch am Tag seiner Ankunft erschlagen wird und kurze Zeit später wird seine Frau mit dem gemeinsamen Sohn nach Tscheljabinsk hinter den Ural zwangsumgesiedelt. Als Gudrun, die der schweren körperlichen Arbeit nicht gewachsen ist, stirbt, wächst ihr Sohn Maykl bei den Gejms auf. Denn auch die Familie des Professors für Sprachwissenschaft ist deportiert worden – Grund waren die deutschen Vorfahren Waldemar Gejms. Die Überlebenden beider Familien, Rem Gejm und Maykl Trutz, treffen sich nach der "Wende" in Wittenberge wieder, wo Maykl eine Anstellung als Archivar gefunden hat.
Es ist Zufall, dass der Erzähler Maykl Trutz trifft, der ihm die im Roman ausgebreitete Geschichte erzählt. Denn eigentlich beschäftigt ihn der mysteriöse Tod des in Bad Kleinen erschossenen Terroristen Wolfgang Grams. Ohne dass dabei auf "In seiner frühen Kindheit ein Garten" direkt verwiesen wird, stellt sich aus den Andeutungen eine Verbindungslinie zu dem 2005 erschienenen Roman her, die sich bis zu "Horns Ende" von 1985 weiterführen ließe.
Ursprung und Funktion der Erinnerung
Auch in diesen beiden Romanen ist das Thema des Erinnerns zentral. Während sich aber in diesen Romanen noch eine die Ereignisse reflektierende Erzählerstimme findet, hat in "Trutz" ein Chronist diese Funktion übernommen – es sind die die Tatsachen, die für sich sprechen. Das aber hat zur Folge, dass sich im literarischen Text wiederholt, was als Kernaussage den Romanen Heins zugrunde liegt: die Menschen sind Statisten im Weltgeschehen. Von daher kann ihnen der Autor, der der Wahrheit verpflichtet ist, in seinen literarischen Texten keine andere Rolle zugestehen. Es ist die Geschichte, von der die Figuren bewegt werden und sie ist es schließlich auch, die verhindert, dass die Protagonisten selbstbestimmte Subjekte werden können. Der in Heins Texten damit einhergehende Lakonismus, der Chronist beschränkt sich auf das Wesentliche, wirft die Frage auf: Wie ließe sich darüber erzählen?