"Der Stoff, aus dem Gewalt entsteht"
In seinem Roman "Verwirrnis" thematisiert Christoph Hein die Probleme von Ausgegrenzten in der DDR. Dass im Osten nun wieder Rufe nach Ausgrenzung laut werden, findet er wenig überraschend. Dort gebe es eine abgehängte Jugend.
Andrea Gerk: Ein sehr genauer Beobachter gesellschaftlicher Zustände, ob vor oder nach der Wiedervereinigung, ist der 1944 geborene Schriftsteller Christoph Hein. Zur Wendezeit war er einer der intellektuellen Leitfiguren, am 4. November 1989 hielt er zum Beispiel eine engagierte Rede am überfüllten Alexanderplatz. Zehn Jahre später wurde er erster Präsident des gesamtdeutschen Pen. Christoph Heins Theaterstücke und Romane, zuletzt "Glückskind mit Vater" und "Trutz" sind vielfach ausgezeichnet worden, und jetzt ist sein neuer Roman "Verwirrnis" erschienen, und darüber wollen wir heute sprechen. Guten Tag, Herr Hein, schön, dass Sie da sind!
Christoph Hein: Ich grüße Sie ganz herzlich!
Gerk: Die Verwirrnis in Ihrem Buch, also die dem Buch den Titel gibt, die packt einen jungen Mann, Friedewald Ringelein, der in den 50er-Jahren in einem kleinen Ort in Heiligenstadt nicht nur Literatur und Kunst liebt, sondern vor allem eben einen jungen Mann, den Wolfgang. Und die beiden werden ein Paar, müssen sich aber verstecken, denn Homosexualität ist zu Beginn des Romans noch verboten. Was hat Sie an dieser Thematik gereizt, wie sind Sie darauf gekommen?
Die Probleme von Ausgegrenzten
Hein: Im Freundeskreis gibt es Homosexuelle, die mir ein bisschen erzählt hatten von den Schwierigkeiten, die sie haben. Und hinzu kommt, dass man mit diesen Ausgegrenzten – dazu gehören eben Homosexuelle oder Migranten oder Behinderte oder, das größte Feld sind die Frauen, die im Patriarchat ausgegrenzt wurden – dass an dieser Stellung dieser Gruppen doch sehr genau der Zustand einer Gesellschaft abzusehen und zu -messen ist. Was Karl Marx mal mit den Worten sagte, der Stand einer Gesellschaft sei am Stand des "schönen Geschlechts" abzulesen, und fügt hinzu "die hässlichen eingeschlossen". Das ist das Problem von Randgruppen, von Ausgegrenzten.
Gerk: Das zeigt sich ja im Roman auch, als das Gesetz schon aufgehoben ist, dass das immer noch so bleibt. In der DDR war ja Homosexualität viel früher nicht mehr strafbar als in der BRD. Aber eine der Frauenfiguren – es geht auch um ein lesbisches Paar –, die sagt dann, na ja, ob das Gesetz jetzt da ist oder nicht, für uns bleibt es immer noch so, dass wir geächtet sind.
Hein: Ja. Ich denke, da war der Gesetzgeber fortgeschrittener als die Gesellschaft. Ich weiß nicht, wie weit eine Homophobie heute noch da ist. Ich denke schon, dass gerade in kleineren und kleinen Städtchen da eine traditionelle Abneigung oder Böseres auch gegen Homosexuelle bestehen. Das ist in den Großstädten, gerade in den Universitätsstädten sicher ganz anders, aber Reste sind immer noch da.
Gerk: Menschen, die am Rand stehen, so Außenseiter, Sie haben es ja auch schon anklingen lassen, das sind ja Figuren, die durch Ihr gesamtes Werk eigentlich geistern. Und aber auch immer die Frage, wie man sich dann eben zu einem repressiven System stellt, wenn man in so einer Situation ist. Das ist hier ja auch so, der eine lehnt sich auch auf, der andere heiratet eine Frau, um damit auch so eine Art Versteck zu haben. Sind Sie dahintergekommen, woran das liegt, wie sich jemand in dieser Frage verhält?
Jahrelange Strafaktionen
Hein: Das ist sicherlich sehr unterschiedlich. Aber dieses Ausgegrenztwerden und sich dann zu verhalten, ist schon ganz spannend. Ich habe das auf anderer Ebene, in anderen Bereichen ähnlich erlebt. Ich bin Flüchtlingskind, also war dann – '45/'46 kam man in das Restdeutschland, in das verbliebene Deutschland und wurde da nicht allzu freundlich aufgenommen. Ich bin Pfarrerssohn, mit 14 Jahren bin ich dann aus der DDR abgehauen, bin nach Westberlin gegangen. In Westberlin war ich natürlich wieder ein nicht gerade willkommener Flüchtling, weil man war mittellos, man war auf Hilfe angewiesen. Dann wurde ich mit dem Bau der Mauer wieder eingefangen, wurde zum DDR-Bürger wieder gemacht, hatte aber jetzt schon zwei schwere Sünden auf meinem Haupt versammelt, nämlich Pfarrerssohn und abgehauen. Das führte dann auch wieder zu jahrelangen Strafaktionen des Staates gegen mich. Also insofern habe ich dazu ein bisschen was erfahren können, leben können. Und dann lernt man auch ein bisschen die Gegentaktiken kennen, wie man damit zurecht kommt, was man aufbauen kann.
Gerk: Sie haben in diesem Roman ja auch eine sehr interessante Figur, finde ich, nämlich der Vater von Friedewald, Pius Ringelein, das ist so ein Lehrer, der seinen Sohn noch mit 17 Jahren mit der Peitsche züchtigt, der auch sowohl die Nazis abgelehnt hat als auch die Kommunisten, ein überzeugter Katholik ist er. Und da gibt es eine ganz tolle Szene, wo er der vermeintlichen Gattin von Friedewald erklärt, dass er auch geschlagen wurde, und dass ihm das seine moralische Stärke verschafft hat. Glauben Sie dieser Figur das, oder ist das ein Missverständnis?
Die menschliche Seite eines brutalen Schlägers
Hein: Das ist so eigentlich von Beginn meines Schreibens an. Das begann damals bei "Horns Ende", wo ich da einen Roman, der von fünf, sechs Figuren erzählt wird, und unter anderem spricht da der Bürgermeister. Alle anderen haben vorher gesprochen, auch über ihn, und haben ihn verurteilt. Und dann, als ich an den Bürgermeister kam, habe ich dann alle Kraft zusammengenommen, um daraus einen Menschen zu machen, etwas verständlich zu machen. Nichts von dem, was die anderen Figuren über ihn sagten, sollte damit gestrichen werden, aber diesen Schurken oder Bösewicht oder unangenehmen Menschen – ich wollte ihm einfach ein menschliches Gesicht geben. Und das habe ich auch bei dem Pius, der seine Kinder mit einem Siebenstriemer noch züchtigt, also ein brutaler Familienvater ist, ich wollte ihm dann irgendwie auch etwas geben, worin der Leser noch etwas Menschliches sehen kann, entdecken kann. Das interessierte mich dabei. Ich würde nie so – nur ein Schurke und mehr nicht, das wäre mir zu wenig.
Gerk: Friedewald wird ja dann an der Universität ein gefeierter Germanist, ein Zögling des Stars seiner Zunft, "Goethe höchstselbst" wird er im Roman genannt, offenbar der gefeierte Germanist und Literaturwissenschaftler Hans Mayer. Ist denn Ihr Roman auch eine Hommage an ihn?
Hommage an Hans Mayer
Hein: Ja, ich habe diesen Hans Mayer erst spät kennengelernt, ich war schon weit über 40. Aber der Roman ist gewissermaßen eine doppelte Hommage an Hans Mayer, an den alten, an den jungen. Und ich war ganz glücklich: Ich wollte die Namen Hans Mayer und Ernst Bloch nicht erwähnen, habe dann studentische Necknamen gewählt. Der eine heißt "Goethe höchstselbst" und der andere heißt "Hegel auf Erden". Und ich war dann im Nachhinein darüber sehr glücklich, weil eine junge Generation, die mit den Namen weniger anfangen kann, kann mit diesen Necknamen vermutlich viel anfangen, weil sie in ihrer Generation natürlich auch wieder solche Leute haben, die mit solchen, ähnlichen Namen bedacht werden.
Gerk: Herr Hein, Ihr Roman endet mit der Wiedervereinigung. Da wird es dann echt bitter, denn da wird die Universität geradezu verschleudert, abgewickelt. Und Sie haben ja auch in anderen Romanen schon über diese Verwüstungen der Wiedervereinigung geschrieben. Liegt für Sie da auch eine Wurzel dessen, was wir heute wieder sehen, wenn wir nach Sachsen, nach Chemnitz ganz aktuell zum Beispiel gucken?
Christoph Hein: Möglicherweise. Ich bin da zögerlich, da ja zu sagen, aber was ich da beschreibe in dem Roman, was da mit der Universität passierte, bis hin zu der rechtlich äußerst fragwürdigen Wegnahme von Eigentum, das die Universität besaß. Auch die Geschichte des Rektors, da gehe ich ganz minutiös nach den tatsächlich abgelaufenen Vorgängen vor.
Eine männliche Jugend ohne Frauen
Gerk: Sie haben ja, wie ich vorhin schon gesagt habe, auch eine exponierte Rolle während der Wende gespielt. Sie haben zum Beispiel am 4.11.1989 diese Rede auf dem Alexanderplatz gehalten, wo Sie die lieben, mündigen Mitbürger vor zu viel Euphorie gewarnt haben und gesagt haben, da ist noch viel Arbeit, die gemacht werden muss. Ist die nicht gemacht worden?
Hein: Nein. Die ist nicht gemacht worden. Das wurde gleich alles zugedeckt mit den sogenannten blühenden Landschaften, die da versprochen wurden. Es wurde nicht von den tatsächlichen Schwierigkeiten genannt. Man hat unter Beteiligung der Ostdeutschen die ganze ostdeutsche Industrie kaputt gemacht. Das war vorbei. Und das sind jetzt die Folgen. Wir haben einen Teil des Landes, nämlich Ostdeutschland, wo eine ganze Generation verschwunden ist, wo noch immer die jungen Leute verschwinden, weil sie hier keine oder eine sehr viel schlechtere Arbeit bekommen als im westlichen Teil. Es verschwinden vor allem die Frauen, die in den Westen gehen und dort heiraten und nicht zurückkommen. Es verschwindet die fitte Jugend, die fitte männliche Jugend. Zurück bleibt eine etwas schlecht ausgebildete, dumpfere männliche Jugend ohne Frauen. Das ist so richtig ein brisanter Stoff, aus dem Gewalt entsteht.
Gerk: Und wenn man die jetzt sieht da in Chemnitz, diese Aufmärsche, die Leute, die da auf die Straße gehen und jetzt nicht gerade den Hitlergruß, aber den Stinkefinger zum Beispiel zeigen, die verstehen sich selbst ja auch als Außenseiter. Haben Sie dafür Verständnis?
Hein: Nein, ich glaube nicht, dass sie sich als Außenseiter verstehen.
Gerk: Sie sagen ja, sie sind abgehängt, und …
Hein: Sie seien das Volk, teilen sie doch dauernd mit.
Gerk: Ja. Wie klingt das denn für Sie eigentlich? Sie waren ja dabei, als dieser Satz quasi kreiert wurde. Tut Ihnen das nicht weh, das jetzt dann in so einem Zusammenhang zu hören?
Hein: Nein. Alle Seiten haben recht. Natürlich sind das alles Teile des Volkes, insofern kann das jeder sagen. Das kann auch jede Kindergartengruppe sagen, "wir sind das Volk". Das Recht hat jeder, der hier in Deutschland ist, zu sagen, wir sind das Volk. Das ist ein Menschenrecht sozusagen.
Gerk: Aber das macht Ihnen nichts aus, wenn das quasi von der falschen Seite vereinnahmt wird?
Hein: Was heißt falsche Seite? Nein, das sind auch Deutsche, und sie sind auch das Volk. Klar, korrekter wäre zu sagen, wenn alle Seiten sagen, wir sind auch das Volk. Aber gut, das hat keine Seite gemacht, und dann kann man es jetzt denen nicht vorwerfen. Es ist so, sie gehören dazu. Sie sind Teil von Deutschland, und sie sind auch ein Spiegelbild dessen, was Deutschland ist.
Der Antisemitismus war nie weg
Gerk: Und sie zeigen ja auch, dass es doch so eine Art Spaltung in der Gesellschaft offenbar gibt?
Hein: Ja, aber die zeigt sich jetzt nur. Ich bin überzeugt, dass 1945 der Antisemitismus nicht weg war, nicht vorbei war, nicht gelöscht war. Der war da, nur, er äußerte sich nicht. In Europa kam der Antisemitismus schon in den letzten Jahrzehnten wieder hoch, in Deutschland, vermutlich wegen dem großen Verbrechen, wegen dem Massenmord, wegen der Schuld am Zweiten Weltkrieg kam es in Deutschland mit großer Verspätung hoch. Es gab so eine Schamfrist, die etwas länger war als bei Nachbarvölkern, die ebenfalls antisemitisch bis '45 waren. Aber dass es da war, denke ich – das war nur unter der Decke und äußerte sich allenfalls mal in der Kneipe. Und jetzt offenbart es sich öffentlich und laut und lautstark.
Gerk: Und hat es auch damit zu tun, mit dem, was Sie in Ihrem Roman ja auch zeigen, dass eben so der Umgang mit autoritären Systemen, mit autoritären Strukturen schon viel älter ist und eigentlich das sowieso eigentlich gar nicht richtig gelernt wurde, mit demokratischen Strukturen umzugehen.
Hein: Ich wäre da vorsichtig mit dem Gelernten. Wir haben eine der bedeutsamsten und ältesten Demokratien, die Vereinigten Staaten von Amerika. Da erleben wir gerade, wie dünn die Decke ist, das demokratische Eis, auf dem man da gegangen ist. Das kann jederzeit überall sofort einbrechen. Wie gesagt, das ist die älteste und ehrwürdigste und eigentlich beispielhafteste Demokratie, mit allen Fehlern, die sie hat. Aber sie schien absolut stabil zu sein, und sie bricht jetzt in einer Art und Weise zusammen, die an Ungarn und Polen erinnert. Es ist fatal.
Gerk: Aber was kann denn da so ein Kräftefeld sein, was dem was entgegenhält. Also zum Beispiel in der DDR gab es ja so ein Gegenbild. Da gab es ein Stück von Heiner Müller, ein Stück von Christoph Hein, wo man sich auch irgendwie dran hochgezogen hat. Aber was kann das heute sein?
Hein: Ich will nicht das Wort "Kulturverfall" sagen, aber Veränderung in der Kultur. Dass zum Beispiel das geschriebene Wort nicht mehr die Bedeutung hat und jetzt mehr das Eidetische, die Bilder, das Handy, der Computer ist viel bedeutsamer für die kulturelle Bildung der nachwachsenden Generation als etwa Bücher, was noch in meiner Jugend eine der wichtigsten Formen war. Heute hat auch die Kinowelt nicht mehr diese Bedeutung zur Bildung einer Nation. Das rutscht alles weg in andere Bereiche, wo es schwieriger wird, da noch zu lenken, zu leiten. Das hört auf.
Gerk: Aber was sollen wir tun?
Hein: Ach, da würde ich Sie bitten, einen sehr viel jüngeren Kollegen zu fragen.
Gerk: Warum? Gerade Sie sind ja ein Mann mit Erfahrung. Sie haben viel Geschichte erlebt, und …
"Ich bin absolut ratlos"
Hein: Ich kann die Frage nicht beantworten. Ich weiß es nicht. Ich bin da absolut ratlos. Und da ich mit den neuen Medien – da ich keine große Lust verspüre, mich daran zu beteiligen, ich aus all diesem Zeug eher aussteige, will ich schon gar nicht etwas über die Zukunft Deutschlands oder die Aufgaben der nächsten Generation sagen. Das wird diese Generation allein machen, und sie werden da auch nicht auf mich hören wollen. Insofern, das fragen Sie bitte einen Jungen.
Gerk: Aber Bücher schreiben Sie schon weiter?
Hein: Aber ja. Aber jeden Tag. Ich arbeite an 360 Tagen im Jahr.
Gerk: Sehr gut, Christoph Hein! Vielen Dank, dass Sie hier bei uns zu Gast waren. Ich danke Ihnen, vielen Dank!
Hein: Und der neue Roman von Christoph Hein ist bei Suhrkamp erschienen. 303 Seiten hat er und kostet 22 Euro. Und heute Abend liest Christoph Hein aus diesem Buch in Leipzig, und am 16. September ist dann die Buchpremiere in der Berliner Volksbühne.
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