Christoph Kramer: "Das Leben fing im Sommer an"

Der erste Kuss des Weltmeisters

Buchcover des Romans "Das Leben fing im Sommer an" von Christoph Kramer
© Kiepenheuer & Witsch

Christoph Kramer

Das Leben fing im Sommer anKiepenheuer & Witsch, Köln 2025

256 Seiten

23,00 Euro

Von Christoph Schröder |
Im Jahr 2006 feierte Deutschland während der Fußball-Weltmeisterschaft das so genannte Sommermärchen. Der Fußballer Christoph Kramer war da gerade einmal 15 Jahre alt. Nun erzählt er, was ihn zu dieser Zeit bewegt hat.
Christoph Kramer ist ein ausgesprochen sympathischer Mensch. Das gilt für den Fußballer Christoph Kramer, der ohne Starallüren und mit einem im Profifußball selten authentischen Auftreten durch eine erfolgreiche Karriere gegangen ist. Das gilt aber auch für jenen jugendlichen Christoph Kramer, der in diesem Roman als Ich-Erzähler fungiert. Kramer erfindet keine Heldengeschichten, betreibt keine Imagepolitur. Nur: Was erzählt er überhaupt?
„Das Leben fing im Sommer an“ spielt an vier Tagen und Nächten im Sommer 2006. Der Ich-Erzähler Chris ist 15 Jahre alt, und ihm geht es genauso, wie es mutmaßlich jedem jungen Menschen in diesem Alter geht: Er leidet massiv unter seinen Pickeln und mangelndem Selbstwertgefühl. Er fühlt sich fremd in der Welt, nicht richtig angekommen. In der Schule ist er unauffällig mittelmäßig. Er hat ein paar gute Freunde, mit denen er altersgemäßen Spaß hat. Und er ist verliebt in ein Mädchen namens Debbie. Sie ist, das betont Chris gefühlte dreißigmal auf 248 Seiten, „das schönste Mädchen der Welt“. Das war es eigentlich.

Party, Schwimmbad und die Schulschönheit Debbie

In jenen vier Tagen, in denen Kramers Coming-of-Age-Roman spielt, passiert im Bewusstsein des jungen Chris unglaublich viel, äußerlich betrachtet aber dann doch ausgesprochen wenig. Deswegen muss jede einzelne Szene – eine Party, ein Kinobesuch, ein Nachmittag im Schwimmbad – durch die Schilderung von Details gewaltig in die Länge gezogen werden. Bei aller Wertschätzung für den eloquenten und verdienten Fußballer Christoph Kramer: Es ist das Gegenteil einer Freude, seinen langweiligen Roman zu lesen. Weil nichts von dem, was darin steht, nicht schon hundertfach erzählt worden wäre, nur besser. Da verabschiedet sich der fünfzehnjährige Chris am Abend auf der Party von besagter Schulschönheit Debbie:

 „Unsere Lippen berührten sich, wenn auch nur einen Millimeter. Gänsehaut breitete sich vom Mundwinkel rasend schnell über meinen Rücken bis in beide Hände aus. Mein Körper vibrierte. Schlagartige Kälte, sodass ich mich hätte schütteln wollen. Meine Augen kniffen unkontrolliert zusammen.

Das ist eine physiognomisch etwas bizarre Beschreibung, die aber noch steigerungsfähig ist, denn am nächsten Tag gehen Chris und Debbie gemeinsam ins Kino. Dort kommt es zum ersten richtigen Kuss zwischen den beiden, dessen Beschreibung sich folgendermaßen liest:

„Die Raketen schossen kreuz und quer durch meinen Körper und explodierten an jeder einzelnen Stelle.“ 

Ein Jugendlicher wie Millionen andere auch

Ja, der Roman transportiert in seiner Beschreibung der äußeren Welt – Mobiltelefone, Kleidung, Jugendsprache, Popmusik – den Zeitkolorit der Nullerjahre. Und ja, dieser schüchterne Chris vom Bauernhof am Rand von Solingen; dieser Junge, für den Düsseldorf schon die große Welt ist, steht ganz sicher prototypisch für Millionen anderer Jugendlicher. Aber all diese abgegriffenen Schwimmbad- und Party- und Discoszenen bleiben, selbst aufgepeppt durch ein paar pseudokomplizierte Verwicklungen, in ihrer Schilderung ebenso austauschbar wie die Selbstergriffenheit des Fünfzehnjährigen am Abend des ersten Kusses:

„Ein triumphierendes Gefühl übernahm meinen Körper. Ich spürte es. In diesem Augenblick am 02.06.06 um 23:23 Uhr hatte ich, Christoph Kramer, endlich meine erste Freundin gefunden. Ich schaute hoch Richtung Himmel. Da, wo eben noch Rauchschwaden gewesen waren: Sterne. Hier fing das Leben an. Hier um 23:23 Uhr. In dieser Nacht, im wärmsten Sommer der Geschichte.“

Der Fußball ist abwesend

Im Grunde erzählt Christoph Kramer das Uninteressanteste aus seinem Leben. Dass er zu Beginn des Buchs, das weniger ein Roman als eine autobiografische Episode ist, gerade von seinem Trainer bei Bayer Leverkusen aussortiert wurde, ist beispielsweise bloß eine kurze Erwähnung wert. Sicher, es mag unfair sein, einen Autor für das zu kritisieren, was er nicht aufgeschrieben hat. Aber wenn in einem Buch von Christoph Kramer der Fußball quasi abwesend ist, ist das zumindest befremdlich. In zwei kurzen nachgeschobenen Kapiteln berichtet Kramer, wie es mit seinem Leben weiterging, nachdem es richtig angefangen hatte:

„Ein paar Wochen später saß ich wieder auf dem Dach der alten Scheune. Allein. Ich musste den Trubel der letzten Tage verarbeiten. Jedenfalls für mich sein. Ich war Weltmeister geworden. Im Fußball. Vorgestern.“

So rundet sich doch alles: Debbie, die den jungen Chris bereits am Tag nach dem Kinokuss schwer enttäuscht hat, schickt eine Glückwunsch-Nachricht, die dem Weltmeister-Chris wiederum herzlich egal ist. Dem Autor Christoph Kramer wiederum dürfte die Literaturkritik ebenso egal sein, weil er sich, wie er in einem Interview sagt, vor allem auf den Zuspruch seiner Leser freut. Er wird auf Lesereise gehen, die großen Hallen füllen und dann hoffentlich bald wieder zum Fußball zurückkehren.
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