Christoph Meckel: "Eine Tür aus Glas, weit offen"
Herausgegeben von Wolfgang Matz
Carl Hanser Verlag, München 2020
288 Seiten, 25 Euro
Dem Dichter über die Schulter sehen
06:11 Minuten
Wenn Christoph Meckel unterwegs war, hielt er seine Gedanken fest, schrieb über Menschen und über Einzelheiten, die er beobachtete. Einige dieser Prosa-Texte sind nun unter dem Titel "Eine Tür aus Glas, weit offen" erschienen.
Am Anfang steht ein Gefühl von Freude – und der beschleunigte Atem. Wenn Christoph Meckel zu zeichnen begann, wollte er nicht warten, bis er gutes Papier gefunden hatte. Egal, ob Bütten oder gewöhnliches Malpapier, Karton oder ein dünnes Stück Pappe: Er gebrauchte, was gerade zur Hand war. Und das Gebrauchen war ihm immer ein Verbrauchen. Im Papier entdeckte er die Spuren der Zeit, einen Knick in der Oberfläche, Wasserflecken, manchmal sogar Fliegendreck. Diese Spuren zeichnen gleichsam mit, der Strich wird abgelenkt oder unterbrochen, die Bleistiftspitze verliert sich in Höhlen und Kratern. Und Meckels kleiner Text über das Papier verwandelt sich wie nebenbei in eine Mini-Poetik und in eine Reflexion über die Vergänglichkeit: "Ich lebe mit meinen Augen, mit Händen und Nerven, mit meinem Handwerk, mit Werkzeugen und Papier."
Leben und Schreiben gehören zusammen
So ähnlich wie den Zeichner kann man sich den Schriftsteller Christoph Meckel vorstellen. Wenn er unterwegs war oder an einem seiner vielen Schreibtische saß, hielt er in Gedanken fest, was ihm begegnete. Doch seine Texte sind nichts weniger als gereihte Beobachtungen. Selbst dort, wo er scheinbar nur ein paar Einzelheiten skizziert, grüne Gläser zum Beispiel und einen Schatten auf dem Tisch, reichert er sie mit Momenten der Phantasie oder der Geschichte an. Leben und Schreiben gehörten bei Meckel stets zusammen. In seinen Gedichten baute er imaginative Zauberwelten voller Nachtbilder und "Nordlichtblitze". In seiner Prosa erschuf er Kunstfiguren, Urbilder, wie es einmal heißt, "die aus vielen Zeitaltern zum Vorschein kommen". Oder er beschäftigte sich in "Suchbildern" konkret mit der Vergangenheit, mit seinem Vater etwa, dessen Portrait sich zu einer Skizze über den Typus des Mitläufers während der NS-Zeit weitet.
Eine Art Meckel en miniature
Keine zwei Monate nach Christoph Meckels Tod ist nun ein Band mit "Gesammelter Prosa" erschienen. Die meisten der kleinen Texte sind zwischen 1976 und 2013 entstanden, Meckel hatte an der Zusammenstellung des Buches noch selbst mitgewirkt. All diese Lobreden, Portraits, kurzen Aufsätze und Zeichnungen bilden weit mehr als nur eine Sammlung beiläufiger Prosa. Das Buch ist eine Art Meckel en miniature, ein Konzentrat seines Schreibens und Zeichnens. Hier kann man ihm dabei über die Schulter sehen, wie er Blätter zeichnet und Gestalten der Kindheit wie das "Bucklicht Männlein". Hier spürt man sein großes Interesse an der Geschichte des Judentums und seine Freude an der Arbeit, so dunkel seine Sprachwelten auch immer wieder sein mögen.
Kleine Selbstbeschreibung in jeder Skizze
Dabei waren ihm Freundschaften sehr wichtig. In seinen Portraits der Künstler Peter Ackermann oder Naftali Bezem verbindet er nicht nur eine sehr einfühlsame Charakteristik mit zeitgeschichtlichen Einschüben, sondern lagert in jede Skizze auch noch eine kleine Selbstbeschreibung ein. Türen, Fenster, Mauern, "in Schatten gepackt", findet man ebenso bei Meckel. Und gewiss teilte er mit Bezem die "helle Vollmacht der Erfindung". Dass er bei all dem darüber nachgedacht hat, was es heißt, ein lebendiger Mensch zu sein, und wie er als Künstler arbeiten muss, damit ihm die Menschen nicht zu Gegenständen werden – das macht die Größe von Christoph Meckel aus.