"Ein historisch interessierter Mann"
Das Deutsche Historische Museum in Berlin gehörte zu Helmut Kohls Lieblingsprojekten. Gründungsdirektor Christoph Stölzl erinnert an den verstorbenen Altkanzler als einen "Polyhistor", der über Geschichte zeitlebens einfach alles wissen wollte.
Der Historiker und frühere Berliner Wissenschaftssenator Christoph Stölzl war Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Museums (DHM) in Berlin - eines der Lieblingsprojekte des verstorbenen Helmut Kohl.
Der 1987 gegründete DHM sei geplant gewesen als "großes Geschichts- und Nationalmuseum als Ersatz für die nicht vereinigte Nation, also eine Art Erinnerungsort an die Zukunft, mit der Hoffnung, dass das mal wieder was wird", sagte Stölzl im Deutschlandfunk Kultur. "Und dass dann da die Geschichte das Ganze vom Kopf auf die Füße gestellt hat, hat uns alle natürlich genauso überrascht."
Typ mittelalterlicher Herrscher
Im Zuge der Arbeit für das DHM habe er auch Helmut Kohl persönlich kennengelernt. Wer ihn zum ersten Mal dann in Wirklichkeit gesehen hat, wenn er durch die Tür reinkam, hatte natürlich einen überwältigenden Eindruck", so Stölzl. "Der Mann war ja wirklich ein Riese, überragte alle anderen, auch im Volumen, und hatte so was von einem mittelalterlichen, merowingisch-karolingischen Herrscher, mit dieser tiefen Stimme."
Kohl sei außerdem ein "ungeheur wissbegieriger, historisch interessierter" Mann gewesen, erinnert sich Stölzl: "Er wusste Könige, Päpste, Literaten, aber auch die Mitglieder der ZKs der KPdSU über die Jahre auf den Sprung. Also, ganz erstaunlich, ein Polyhistor, ganz merkwürdig, das scheint ein zentrales Selbstverständnis in seinem Leben gewesen zu sein, über Vergangenheit sehr viel, möglichst alles zu wissen."
Das Interview im Wortlaut:
Katrin Heise: Helmut Kohl war ein Kanzler, der Geschichte gemacht hat. Aber er war neben dem Politiker vor allem auch ein promovierter Historiker. Schon von Berufs wegen war ihm also das Handeln aus dem Bewusstsein der Geschichte heraus wichtig. Speziell über die deutsche Geschichte immer wieder zu reflektieren erschien ihm deshalb absolut notwendig; eins seiner Leib-und-Magen-Projekte, wenn man das mal so salopp formulieren darf, war deshalb das Deutsche Historische Museum in Berlin. Nicht zuletzt dieses Museum verband Helmut Kohl mit meinem Gesprächspartner jetzt, mit Christoph Stölzl, Historiker, Publizist und Politiker. Guten Morgen, Herr Stölzl!
Christoph Stölzl: Guten Morgen!
Heise: Dieses Deutsche Historische Museum, gegründet 1987 in Berlin, Sie der Gründungsdirektor … Es war doch dieses Projekt, nicht die CDU, ich glaube, Sie waren damals noch in der FDP… Es war doch das Deutsche Historische Museum, das Sie mit Helmut Kohl verband, oder?
Stölzl: Ich hatte mit der CDU damals gar nichts zu tun. Ich kannte den Kanzler wie alle Deutschen aus dem Fernsehen und aus den Zeitungen, aber aus der Nähe richtig kennengelernt habe ich ihn natürlich erst bei der Gründung dieses, was Sie mit Recht eines seiner Lieblingsprojekte genannt haben.
Riesige kulturhistorische Bibliothek
Heise: Wie erinnern Sie sich an ihn? Dieses Deutsche Historische Museum, dass das mal im Zeughaus Unter den Linden Platz haben würde, das konnte man zur Gründung anlässlich der 750-Jahr-Feier Berlin, also 87, sich ja überhaupt nicht erträumen!
Stölzl: Das war überhaupt noch gar keine Idee. Es war ja, wenn man so will, ein großes Geschichts- und Nationalmuseum als Ersatz für die nicht vereinigte Nation, also eine Art Erinnerungsort an die Zukunft, mit der Hoffnung, dass das mal wieder was wird. Und dass dann da die Geschichte das Ganze vom Kopf auf die Füße gestellt hat, hat uns alle natürlich genauso überrascht. Und eigentlich war ich damals auch überrascht, dass man sagte: Wunderbar, jetzt brauchen wir das nicht mehr. Also, das ging trotzdem weiter.
Also, die Frage, wie ich Helmut Kohl erinnere: Wahrscheinlich wie jeder! Wer ihn zum ersten Mal dann in Wirklichkeit gesehen hat, wenn er durch die Tür reinkam, hatte natürlich einen überwältigenden Eindruck. Der Mann war ja wirklich ein Riese, überragte alle anderen, auch im Volumen, und hatte so was von einem mittelalterlichen, merowingisch-karolingischen Herrscher, mit dieser tiefen Stimme. Und das war sein ganzes politisches Leben lang natürlich irgendwie ein ganz starker Eindruck auf alle, hat sicher auch mit seinem Erfolg zu tun.
Und das Zweite, weil Sie Historiker angesprochen haben: Helmut Kohl war ja, was er selbst gesagt hat, eine Leseratte, ein ungeheuer wissbegieriger, historisch interessierter Mann, der, wo er stand und ging, immer Bücher mit sich geführt hat, auch da in Oggersheim eine riesige kulturhistorische Bibliothek hatte. Ich kann mich erinnern, da habe ich ihn begleitet noch zum Flughafen irgendwo bei einem Berlin-Besuch, und hinten im Auto lag Hamanns "Hitlers Wien", und das war gerade zur Hälfte und das las er, dieses riesige Buch neben all seinen anderen Sachen. Er wusste Könige, Päpste, Literaten, aber auch die Mitglieder der ZKs der KPdSU über die Jahre auf den Sprung. Also, ganz erstaunlich, ein Polyhistor, ganz merkwürdig, das scheint ein zentrales Selbstverständnis in seinem Leben gewesen zu sein, über Vergangenheit sehr viel, möglichst alles zu wissen.
"Er ließ die Leute dann machen"
Heise: Das haben Sie jetzt schön gesagt, ein Polyhistor. Mussten Sie sich da also diesem Polyhistor gegenüber als Gründungsdirektor sehr stark behaupten, sehr stark auseinandersetzen? Weil ich annehme, dass er auch ziemlich genaue Vorstellungen vom Deutschen Historischen Museum hatte, oder?
Stölzl: Merkwürdigerweise nein. Das ist ja ein Grund für den Erfolg, dass er sagte: Ich mache das, wir machen das, das wollen wir. Aber von da an augenblicklich das an die Wissenschaft delegiert hat und sich aus jedem Einzelmeinungsversuch herausgehalten hat. Er war ein höchst interessanter Gesprächspartner, aber er ließ die Leute dann machen. Das war die große Überraschung.
Weil, als Kohl anfing in den 80er-Jahren mit diesen berühmten Reden über die Wiedergewinnung der Geschichte, dachten alle: Jetzt kommt er mit seinem Füllfederhalter und schreibt uns, was wir tun sollen. Das Gegenteil war der Fall. Und er hatte ja auch in allen anderen kulturpolitischen Dingen streng auf föderale Souveränität der Länder geachtet und hat sich von Bundes wegen in die Inhalte nie hineingemischt. Er war ein großer Finanzier, ein Ermöglicher, er macht die Tür auf und sagt: Reingehen müsst ihr aber selber. Und das ist eine ganz interessante Geschichte, weil ja sozusagen in der öffentlichen Meinung man eher sagte: Ja, weil man eben verwechselte diese …
Heise: Er wirkte immer so als Machtmensch, ne?
Den ganzen Tag am Telefon
Stölzl: Ja, ja, natürlich war das ein Machtmensch und ein unglaublicher… auf dem Klavier der Parteipolitik, das heißt mit Menschen gut spielen konnte und den ganzen Tag sozusagen diesen Riesenapparat in Bewegung hielt. Ich kann mich erinnern, als wir so eine winzige, kleine Ausstellung machten gleich nach der Gründung des Museums im Bundeskanzleramt, in der Tradition von Helmut Schmidt hat ja dann Kohl monatlich Ausstellungen gemacht.
Da war es so still, als wir aufgebaut haben. Dann fragte ich mal irgendwelche Leute, die aus diesen schweren Doppeltüren herauskamen: Was macht der da eigentlich hinter seiner Tür? Und dann sagt die: Der telefoniert den ganzen Tag. Das heißt, der war ein… Ist irgendwie auch mittelalterlich: Der mittelalterliche Staat, ein Personenverbandsstaat, wo die Leute sich kannten. Und so hat er es eigentlich trotz moderner Mittel auch gemacht.
Heise: Sagen Sie, aus diesen … Sie haben ihn jetzt als … dieses Lesen, dieses Sich-ständig-mit-der-Geschichte-Beschäftigen haben Sie sehr betont. Seine europäische Leidenschaft kam ja auch aus seinem Geschichtsbewusstsein heraus. Wir erleben ja, wenn ich das jetzt mal so sagen darf, gerade sehr dunkle Zeiten, was Europa betrifft. Fehlen uns junge Politiker vom Geschichtsbewusstsein des Helmut Kohl?
Stölzl: Ja, das ist schon ein großer Verlust, weil eben das Zweite hier gesagt werden muss: Er hat sich ja nicht nur die Bücher angelesen, sondern wirklich alle öffen…
Heise: Erlebt.
Stölzl: Ja, erlebt, und eine zentrale Sache ist, die man in verschiedenen autobiografischen Schriften oder Filmen von ihm sehen kann, wie dieser junge Mann im Sommer 45 von den Alpen, wo er irgendwo auf so einer Schulung war zum Kanonenfutter, zu Fuß zwei Monate heimgegangen ist, quer durch dieses vollkommen zerstörte Land, das ja sozusagen eine Ruinenlandschaft, eine Elendslandschaft war, an den Rhein zurück.
"Nie wieder Krieg" als Lebensmotto
Und da diesen Schwur, dieses "Nie wieder Krieg", was ja auch aus der Familie kommt, weil sein älterer Bruder gefallen ist. Und diese Idee, dass das nie wieder sein darf, nie, nie wieder, und natürlich, bei einem Mann vom Rhein geht es auch vor allem nach Europa, nicht nur Richtung Osten, nie wieder Krieg mit dem Osten, sondern nie wieder Krieg in Europa. Das ist ein zentrales Motiv. Und hindurch, durch alle parteipolitischen Aufs und Abs und Machtkämpfe und all dies, was man ja geschrieben hat und auch beschreiben kann und wo der Mann alle Tricks und Schliche und alle Methoden kannte, zieht sich diese Grundmelodie durch: Das alles hat nur ein Ziel, nämlich eben nie wieder Krieg in Europa.
Heise: Christoph Stölzl mit Erinnerungen an Helmut Kohl. Ich danke Ihnen, Herr Stölzl, dafür!
Stölzl: Ja, danke Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. DLFKultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.