Christoph Then: „Biologische Intelligenz"
© Verlag oekom
Staunend in die Tiefendimensionen der Natur
05:44 Minuten
Christoph Then
Biologische Intelligenz. Über Evolution, Artenschutz und die Gentechnikoekom, München 2021304 Seiten
19,00 Euro
Kraken klettern aus Aquarien, öffnen Schraubgläser und passen ihre Körperoberfläche der Umgebung an. Christoph Then beschreibt, was biologische von technischer Intelligenz unterscheidet. Und er erklärt: Wie lernt ein Gen?
In seinem hochinteressanten, wissenschaftlich anspruchsvollen Buch „Biologische Intelligenz“ taucht Christoph Then tief in die Frage ein, was eigentlich die Klugheit lebender Systeme ausmacht. Nicht nur Kraken dienen ihm als Beispiele. Letztlich zeugen alle Lebewesen, die diesen Planeten mit hochangepasstem Verhalten und vielfältigsten Problemlösungskompetenzen besiedeln, von biologischer Intelligenz – bis hin zu dem Coronavirus, das die Menschheit seit nun fast drei Jahren mit seinen geschickten Mutationen in Atem hält und das der Autor in seinem Buch immer wieder als Beispiel heranzieht.
Kraken vs. Apparate
Der promovierte Tierarzt, der sich seit langem intensiv und kritisch mit Fragen der Gen- und Biotechnologie beschäftigt, seziert in seinem Buch in acht Kapiteln akribisch, worin die Unterschiede zur einer technisch erzeugten künstlichen Intelligenz im Detail bestehen. Was läuft anders bei Apparaten und Kraken, oder bei dem, was Zellen und DNA-Moleküle tun im Vergleich zu den Experimenten der Genforschung?
Jeder Organismus, so arbeitet der Autor heraus, ist auf seine Weise ein Höhepunkt der Evolutionsgeschichte, nicht anders als der Mensch, der sich gern allein auf diesen Sockel stellt. Jedes Tier, jede Pflanze, jedes Virus trägt in sich die Problemlösungserfahrungen von Jahrmillionen – mehr noch: Es wendet diese Erfahrungen unauflösbar vernetzt mit seiner Umwelt und den anderen darin lebenden Organismen an.
Gene lernen und kommunizieren
Das gilt nicht nur auf der makroskopischen Ebene des Verhaltens oder des Körperbaus, siehe Kraken, Ameisen, insektenlockende Blütenpflanzen. Es gilt auch bis tief hinein in genregulatorische Abläufe – physiologische Details, in denen sich Christoph Then kenntnisreich bewegt, die biologischen Laien aber einige Konzentration beim Lesen abfordern.
Zu zeigen, dass auch Gene lernfähige Systeme sind, die flexibel und im steten Austausch mit der Umwelt leben, ist dennoch für den Autor unverzichtbar, setzt hier doch seine Kritik am technisch reduzierten Verständnis der Genforschung an.
Unfassbare ökologische Komplexität
Wer die genetischen Informationen von Organismen im Labor vermengt, solche Hybride in die Umwelt entlässt, aus der sie nie wieder rückholbar sein werden, der riskiert das, was der Autor mit einem starken Ausdruck als „biologische Demenz“ bezeichnet: Der Lernfaden in der einzelnen Art und damit das Lerngewebe der Lebensgesamtheit mit seiner evolutionsgeschichtlichen Tiefendimension wird zerrissen zugunsten der Einführung von Eigenschaften, die dem Menschen praktisch erscheinen – kurzsichtig gedacht, interessegeleitet und ohne Kenntnis der ökologischen Gesamtzusammenhänge, die in ihrer Komplexität kaum zu begreifen sind.
Es ist eine große, wenn auch nicht ganz anstrengungslose Freude, dem detailverliebten Christoph Then durch seine Überlegungen in neue Denkhorizonte zu folgen, sich in seine zahllosen biologischen Beispiele zu vertiefen und lesend zu erfahren: nüchterne wissenschaftliche Präzision und das staunende Wahrnehmen der Tiefendimensionen der Natur schließen einander nicht aus.