Christoph Türcke: "Umsonst leiden"

Hiob und der Kapitalismus

"Umsonst leiden" - ein Buch, das die Hiob-Geschichte entschlüsselt
"Umsonst leiden" - ein Buch, das die Hiob-Geschichte entschlüssel. © imago / Steinach / zu Klampen
Von Gesine Palmer |
Als Inbegriff des leidenden Gerechten ist die Hiob-Figur weltbekannt. Dennoch steckt das biblische Buch Hiob voller Rätsel. Der Philosoph Christoph Türcke findet in "Umsonst leiden" neue Antworten – und hat das Zentralgeheimnis der Geschichte gelüftet.
Christoph Türcke ist dafür bekannt geworden, dass er gern bei Adam und Eva anfängt und dann auf dieser Grundlage die Dramen des spätkapitalistischen Zeitalters erklärt. Seine letzten Bücher funktionieren immer so, dass sie von einem Detailproblem ausgehen, dieses aber in den ganz großen Zusammenhang stellen und dadurch beides zu erklären behaupten: das Detailproblem ebenso wie den ganz großen Zusammenhang.
So auch hier: Türcke kündigt schon in der Überschrift an, den Schlüssel zum Buch Hiob gefunden zu haben – immerhin zu einem der rätselhaftesten und allein sprachlich schon schwierigsten Bücher der Hebräischen Bibel. Und er greift, um diesen Schlüssel zu präsentieren, noch einmal auf seine schon in früheren Werken formulierte Theorie vom Opfer zurück.

Gott straft, der Mensch opfert

Das Opfer, so erläutert er, sei eine Reaktion der frühen Menschen auf das Trauma der über sie hereinbrechenden Naturkatastrophen. Sie versuchen, die von ihnen imaginierten Gottheiten durch ein Opfer zu besänftigen und zur Schonung zu bewegen. "Das älteste Denken war Wunschdenken. Es entstammte dem Wunsch, Verhältnismäßigkeit herzustellen – durch Schuldbegleichung: Zahlung."
Menschliches Unglück wird als Strafe Gottes für eine menschliche Verfehlung angesehen – und mit dem Opfer macht der Mensch seinen Fehler wieder gut. So wendet er weiteres Unglück von sich ab.
Diesem Glauben wurden zu allen Zeiten viele Menschen, Tiere und Güter geopfert. Warum war das so wichtig? Weil es den Grund für das Leiden im Fehlverhalten der leidenden Menschen suchte. Dadurch erst konnten sie der quälenden Ohnmacht entgehen: Wer selbst schuld ist, kann auch selbst etwas gegen das Leiden tun. Zum Beispiel, indem er opfert.

Hiobs Leid ist zu nichts gut

Das Buch Hiob ist wohl das älteste Buch in unserem Kulturkreis, das diesen Glauben durchbricht. In ihm ist vor allem ein Gedanke kunstvoll entfaltet: Das unsägliche Leiden seiner Hauptfigur war umsonst – vergeblich, zu nichts gut, und unverschuldet.
Hiob, ein reicher und frommer Mann, wird Opfer einer Wette zwischen Gott und Satan. Gott präsentiert ihn als sein Prachtgeschöpf, Satan sagt, Hiob sei nur fromm, weil Gott es ihm gut gehen lässt – und Gott überlässt ihn einer Folter durch Satan, um zu beweisen, dass sein Knecht ihm auch unter der Folter die Treue halten werde.
Hiob verliert alles, beklagt sich bitter, besteht auf seiner Unschuld und widersteht den Freunden, die ihn davon zu überzeugen versuchen, dass er selbst schuld ist an seinem Leiden. Am Ende bedauert Gott, dass er seinen Knecht so gequält hat, und macht ihn wieder reich und glücklich.

Fundamentale Kritik an der Sinnordnung

Für Türcke ist daran interessant, dass diese Sinn-Idee, die er "Äquivalenzprinzip" nennt, in Frage gestellt wird, und zwar in dem Wort "umsonst", hebräisch "hinnam". Türcke nimmt sich nun – in einer für jeden Laien lesenswerten, weil sehr spannend und verständlich geschriebenen Einführung in die Textanalysen der Bibelkritiker - die verschiedenen Elemente des biblischen Buches vor und erklärt, mit welchen Tricks der letzte Verfasser, der das Ganze zusammengefügt hat, erreichen konnte, dass dieses Buch in den biblischen Kanon gelangte, obwohl es eine fundamentale Kritik an der Sinnordnung des Monotheismus enthält.
Und das findet Türcke vor allem deswegen spannend, weil er glaubt, dass diese Kritik heute wieder nötig ist. Er sieht nämlich im Weltmarkt den real existierenden Monotheismus, in dem nichts umsonst sein darf, nicht einmal das Leiden.

Nichts darf mehr umsonst sein

Das liegt daran, dass er hier weniger auf gruppenpsychoanalytische Untersuchungen des Sündenbock-Mechanismus hinaus will und mehr auf die Bedeutung des Äquivalenzprinzips. In ihm glaubt er, das Prinzip zu erkennen, das zur Gesamtdurchsetzung des Weltmarkts noch heute beiträgt: Wo alles seinen Preis hat, darf nichts mehr umsonst sein – nicht einmal das Leiden.
Hiob, so Türcke, ist eine der frühen literarischen Gestalten, die in einer Welt, in der "nichts mehr umsonst sein darf und für alles ein Preis, ein Äquivalent, eine Funktion, ein Sinn vorgesehen ist", nicht haben leben wollen. Und damit gehört er zu den großen biblischen Gestalten, die ein noch heute bedeutendes kritisches Potential (Türckes Dissertation hieß "Zum ideologiekritischen Potential der Theologie") entfalten.

Christoph Türcke: Umsonst leiden. Der Schlüssel zu Hiob
zu Klampen Verlag
Springe 2017
120 Seiten
14,99 Euro

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