Christoph Wehner: Die Versicherung der Atomgefahr
Risikopolitik, Sicherheitsproduktion und Expertise in der Bundesrepublik Deutschland und den USA 1945–1986
Wallstein Verlag
428 Seiten, 46 Euro
Unkalkulierbare Risiken
Atomkraft - Zerstörung, Energiewunder oder gutes Geschäft für die Versicherungen? Wie sich die bundesdeutsche Sicherheitskultur seit Hiroshima verändert hat, untersucht Christoph Wehner in seinem Buch. Eine anstrengende, aber lohnende Lektüre, findet unser Kritiker.
Die Geschichte der zivilen Atomkraft ist auch die Geschichte einer ökonomischen Irrationalität, die unkalkulierbare Risiken auf den Bürger verschob. In seinem Buch "Die Versicherung der Atomgefahr" schildert der Historiker Christoph Wehner diesen Prozess.
Am 6. August 1945 explodierte in Hiroshima die erste Atombombe über einer Stadt. Drei Tage später traf es Nagasaki. Seitdem sind beide Städte im kollektiven Gedächtnis untrennbar verbunden mit verheerenden Bildern von Zerstörung. Sie wurden zum Symbol für den Atomtod.
Umso verwunderlicher erscheint, dass wenige Jahre danach die sogenannte "friedliche" Nutzung von Atomenergie sowohl in den USA als auch in der Bundesrepublik Deutschland optimistische, ja sogar euphorische Fantasien freisetzte. Plötzlich galt Atomenergie als Chiffre für Modernität und Fortschritt. Sogar der marxistische Philosoph Ernst Bloch schwärmte in seinem Ende der 50er-Jahre erschienen "Prinzip Hoffnung": Einige hundert Pfund Uranium würden ausreichen, die Sahara und die Wüste Gobi verschwinden zu lassen und Sibirien, Grönland sowie die Antarktis in eine Riviera zu verwandeln.
Weite Kreise sprachen sich für Kernenergie aus
Im sogenannten Göttinger Manifest protestierten prominente Atomphysiker scharf gegen die Pläne zur atomaren Bewaffnung der Bundeswehr. Und genauso entschieden plädierten sie für eine friedliche Verwendung der Atomkraft und kündigten an, sich mit aller Macht dafür einzusetzen.
CDU/CSU, FDP und die opponierende SPD zeigten sich parteiübergreifend entschlossen, den Rückstand in der Atomforschung aufzuholen und so schnell wie möglich einen Forschungsreaktor in Betrieb zu nehmen. Auch die Industrieverbände stimmten im Chor mit ein:
"Die großen Energieversorgungsunternehmen in der Bundesrepublik, darunter auch das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk RWE, schlossen sich dem in vielerlei Hinsicht naiven und bodenlosen Nuklearoptimismus gleichwohl nicht an. In Anbetracht der Emphase, mit der diese Unternehmen in den 70er-Jahren die Sicherheit von Kernkraftwerken gegenüber öffentlichen Anfeindungen verteidigten, mag dieser Befund zunächst überraschen. (…) Als Betreiber von Kernkraftwerken mussten sie nicht nur die konventionellen Investitionsrisiken tragen, sondern darüber hinaus auch das mit dem Betrieb von Kernkraftwerken verbundene exzeptionelle Haftpflichtrisiko einkalkulieren."
Der damalige Vorstandsvorsitzende des RWE, Heinrich Schöller, formulierte im Rahmen einer Sitzung nüchtern, man sei nicht bereit, "sich für eine sogenannte technische Revolution zu ruinieren." Dass sich RWE dann trotzdem am Bau des Versuchsatomkraftwerks Kahl beteiligte, begründete Schöller so:
"Wenn schon der Staat durch übereilten Bau von Kraftwerken Dummheiten machen will, wir diese Dummheiten dann doch besser selbst machen wollen, um sie unter Kontrolle zu halten."
Die Versicherungswirtschaft blieb skeptisch
Ebenso skeptisch zeigten sich zunächst führende Vertreter der Versicherungswirtschaft. Da selbst die Wissenschaft die Strahlenrisiken noch nicht restlos erforscht habe, verbiete es sich, solche unkalkulierbaren Gefahren zu versichern.
Dass und wie es dann dennoch ganz anders kam, zeichnet Autor Christoph Wehner akribisch in seiner Doktorarbeit nach, die als über vierhundert Seiten dickes Buch erschienen ist. Weil seine Analyse vor allem wissenschaftlichen Standards genügen will und weniger auf Lesbarkeit angelegt ist, erweist sich die Lektüre als mühsam. Aber die Anstrengung lohnt sich. Wehner untersucht die Risikopolitik der Versicherungswirtschaft, um daraus Einsichten zu gewinnen, wie sich die Konfliktfelder um die bundesdeutsche Sicherheitskultur entwickelt haben.
"Insgesamt ist festzuhalten, dass die Versicherungsexperten im zeitgenössischen Kernenergiediskurs eine technik- und wissenschaftskritische Korrektivrolle einnahmen. Während Kernkraftapologeten aus Wissenschaft und Politik Sicherheitsprobleme entweder nicht thematisierten oder aber pragmatisch in die Zukunft verschoben, kommunizierten Versicherungsexperten von Beginn an fundamentale Zweifel an der neuen Technologie."
Allerdings wollten sie sich auch ein gutes Geschäft nicht entgehen lassen. Und so entstand die Idee, nukleare und scheinbar konventionelle Risiken voneinander zu trennen. Mögliche Schäden an Gebäuden und Anlagen versicherten die Versicherungsunternehmen. Potenzielle Haftpflichtrisiken für Umwelt und Bevölkerung übernahm der Staat und damit der Steuerzahler via Atomgesetz.
Allianz zwischen linkem Protest und kapitalistischem Kalkül
So gingen Anfang der 70er-Jahre zahlreiche Atomkraftwerke ans Netz. Zeitgleich entstand eine Anti-AKW-Bewegung, die unermüdlich auf die Gefahren durch mögliche Unfälle, Wiederaufbereitung und ungeklärte Endlagerung aufmerksam machte. Dabei kam es zu einer unbewussten und überraschenden Allianz der Gegenpole, zeigt Wehner mit seiner Studie. Da die Internationalen Versicherungskonzerne das Katastrophen-Risiko offenbar nicht versichern wollten und konnten, machten sie sich unfreiwillig zum Kronzeugen der Atomkraftgegner:
"Der Verweis auf das vorsichtige Risikokalkül der Versicherer ließ sich symbolisch nutzen, um Artikulationen von Angst und Unsicherheit im gesellschaftspolitischen Diskurs zu legitimieren. Jenseits aller Grenzen, welche die kapitalistische Institution 'Versicherung' und die im Kern linke Anti-AKW-Bewegung voneinander trennten, verband sie ein hypothetischer Gefahren-Denkstil, in dem pessimistische Worst-Case-Szenarien einen klaren Vorrang gegenüber Erfahrungsgewissheiten hatten."
Inspiration durch Becks "Risikogesellschaft"
Zwar sprachen sich Versicherungsexperten offiziell weiterhin zugunsten der Kernkraft-Technik aus, aber ökonomisch handelten sie entgegengesetzt. Umgekehrt – meint Autor Christoph Wehner – habe sich die Versicherungswirtschaft dann in den späten 80er- und 90er-Jahren durch den Soziologen Ulrich Beck und seine These der "Risikogesellschaft" inspirieren lassen:
"Wie die Debatten nach Fukushima, aber auch bezüglich der Folgen des Klimawandels gezeigt haben, spielen die 'Grenzen der Versicherbarkeit' in der gesellschaftlichen Risikokommunikation noch immer eine zentrale Rolle. Dem Bedeutungsverlust der Assekuranz als ökonomischer Sicherheitsproduzent entspricht mithin ihr Bedeutungszuwachs als gesellschaftliche Gefahrensonde."
Soll heißen: Aufgepasst! Was Versicherungen nicht versichern, ist ganz besonders gefährlich.