Christophe Boltanski: "Das Versteck"
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel
Carl Hanser Verlag, München
320 Seiten, 23,00 Euro
Die gut gehüteten Geheimnisse der Vorfahren
In dem Roman "Das Versteck" erkundet der französische Journalist Christophe Boltanski die Gründe für das exzentrisch-obsessive Verhalten seiner prominenten Familie. Es gelingt ihm, das ironisch und respektvoll gleichermaßen zu tun - eine großartige literarische Entdeckung.
Die Boltanskis haben in Frankreich einen Namen: Luc Boltanski machte als Soziologe Karriere, Christian als international gefragter Installationskünstler und Filmemacher. Luc ist der Vater des Autors, Christian ein Onkel. Eine nur viereinhalb Jahre ältere Tante firmiert als Fotografin unter dem Namen Anne Franski. Die Mutter väterlicherseits veröffentlichte unter dem Pseudonym Annie Lauran Romane. Zu ihr und dem Großvater zog Christophe Boltanski im Alter von 13 Jahren. Er ahnte nur vage, wie viel Freiheit er einbüßen würde, wenn er den Alltag mit einer körperlich versehrten Frau teilte, die außer ihren nächsten Angehörigen niemandem traute. Ihre Erfahrungen als "verkauftes" Adoptivkind und das virulente Denunziantentum während der Vichy-Jahre erzeugte tiefes Misstrauen.
Als die Großmutter 1988 starb, benachrichtigte man den Enkel erst Wochen später. Es erstaunt also nicht, dass Christophe Boltanski zu gegebener Zeit seine journalistischen Fähigkeiten nutzte, um die familiären Legenden zu prüfen und sich en passant auch vom berühmten Onkel zu emanzipieren. Der nämlich verfeinert seit den siebziger Jahren in seiner Kunst die Technik der pseudodokumentarischen, bewusst in die Irre führenden Rekonstruktion der Familiengeschichte.
Die großelterliche Wohnung - ein angeschmuddelter "Palast"
Minutiös, systematisch, ironisch und doch auch respektvoll legt Christophe Boltanski die Gründe für das exzentrische-obsessive Verhalten seiner Familie offen, indem er kapitelweise jeden Raum der großelterlichen Wohnung in der Pariser Rue de Grenelle durchkämmt. Sie bildet die Kernzelle auch seines Lebens: ein angeschmuddelter "Palast", in dem man Tag für Tag die Existenz als antibürgerliches Provisorium zelebrierte. In ihm empfing Großvater Étienne Patienten und seine Ende des 19. Jahrhunderts aus Odessa eingewanderten jüdischen Eltern, die ein Stockwerk höher wohnten. Die Urgroßmutter, mit falschen Papieren lebend, sollte sich als "die Quelle" aller verdrehten, mit den Jahren "wie Knetmasse ausgehärteten" Berichte erweisen.
Souverän umspielt Christophe Boltanski die gut gehüteten Geheimnisse seiner Vorfahren; fein dosiert, nie eitel, setzt er sich selbst ins Bild - als Enkel eines angesehenen, zum Katholizismus konvertierten Arztes, der mitten im Zweiten Weltkrieg auf seine jüdische Herkunft reduziert wurde und sich während 20 Monaten – offiziell geschieden und als verschwunden erklärt - in einem Hohlraum unter dem Parkett der Wohnung versteckte.
Was den Enkel überrascht, ist, dass der Großvater sich für den Rest seines Lebens nie mehr von seinem Versteck entfernte. Sarkastisch merkt er an, dass er den "Zwischen-Raum" wohl "am liebsten mit Geranienkästen und Gartenzwergen geschmückt hätte". Ein paar Seiten später konstatiert Boltanski sanft, dass der Großvater vom Versteck nicht lassen konnte, weil ihn die Selbstgefälligkeit nach der Befreiung schlicht erdrückte.
Klima des Antisemitismus
Anders als sein berühmter Onkel Christian, der seine Geschwister Neffen und Nichten in seinen Installationen "wie Vertreter eines vergessenes Stammes klassifizierte" und sie in gefälschten Verzeichnissen auftauchen ließ, ist Christophe Boltanski offenkundig bemüht, das Wahre vom Falschen zu trennen. Dazu gehört auch, dass er das gesellschaftliche Klima zwischen den Kriegen und den seit dem 19. Jahrhundert gängigen, institutionellen Antisemitismus klar bewertet. Die feinen Zwischenräume zwischen dem Offenkundigen und dem Verborgenen erkundet Christophe Boltanski in seinem Familienroman auf wundersame Weise, ernst und amüsant. "Das Versteck" ist eine großartige literarische Entdeckung.