Christopher Clark: Gefangene der Zeit – Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Trump
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz
DVA, München 2020
336 Seiten, 26 Euro
So neu ist manche Krise gar nicht
05:04 Minuten
Der Historiker Christopher Clark legt einen Band mit klugen Essays vor, die interessante und teils höchst amüsante Parallelen zwischen Geschichte und Jetztzeit herausarbeiten. Eine kurzweilige Lektüre in unsicheren Zeiten.
Inwiefern kann das Nachdenken über die Vergangenheit uns helfen, unsere derzeitigen Zwangslagen zu verarbeiten? Das ist die Leitfrage, unter die der Historiker Christopher Clark die jüngste Sammlung seiner Essays stellt.
Mit ihnen wirbt er für ein Betrachten von Geschichte, das das historische Geschehen und das Handeln der Personen in die Zusammenhänge ihrer jeweiligen Zeit stellt. Denn in dieser ist – wie der Titel unterstreicht – jeder gefangen.
Gleichzeitig gelingen ihm auf dieser Grundlage unvermutete und deswegen erhellende Analogien zur Gegenwart, wenn er Politikstile und Persönlichkeiten aus der Geschichte denen von heute gegenüberstellt. So neu ist dem historisch gebildeten Blick manche Krise der Gegenwart dann am Ende nicht.
Das Unvorhersehbare und Zufällige
Schon die Pest im frühneuzeitlichen Venedig und Florenz, so erinnert uns Clark, rief unter der Bevölkerung blankes Entsetzen hervor, ebenso die völlige Ignoranz unter jungen Florentinern. Die staatlichen Anordnungen zur Eindämmung wurden von der Bevölkerung dort angenommen, wo ein Vertrauen in die politische Herrschaft bestand, und dort abgelehnt, wo eben dies fehlte.
Trotz der historisch bekannten Epidemien fällt auf, wie hilflos und am Ende unvorbereitet eine hochtechnologisierte Moderne auch heute noch der Covid-Pandemie gegenübersteht. Mit seinem Sinn für das Unbestimmbare, das Unvorhersehbare und das Zufällige in der Geschichte macht Clark hierfür einen Mangel der Geschichtsschreibung und am Ende des menschlichen Denkens aus: Der Zufall als Denk- und als Geschichtskategorie ist nicht zugelassen. Denn das historische Erkenntnisstreben sucht nach dem Erklärbaren und dem zurechenbaren Handeln, und klammert das von außen Kommende, Unzurechenbare aus.
Die "Methode Bismarck"
Dieses Werben für ein Verständnis des Unvorhersehbaren und Unbestimmbaren und der zeitlichen Eingebundenheit historischer Personen und Phänomene prägen die Glanzstücke dieser Essaysammlung. In einer pointierten Reflexion über politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Macht spannt Clark den Bogen vom spätbabylonischen König Nebukadnezar II. bis zur heutigen Philosophin Judith Butler, um zu zeigen, wie relativ Macht immer ist, und wie abhängig von einer Vielzahl von situativen Einzelfaktoren.
In einem anderen Essay veranlasst Clark die Bismarck-Verehrung von Dominic Cummings – dem gerade entlassenen Sonderberater von Boris Johnson – über Parallelen in der Taktik und Technik ihrer Politikstile nachzudenken. So entdeckt er eine "Methode Bismarck", die in ihrer Unvorhersehbarkeit, ihrer Suche nach Provokation und ihrem oft chaotischen Verfolgen von mehreren Zielen zugleich auch heute wieder hochaktuell ist und das Bismarck oft unterstellte überragende Handlungsziel der deutschen Einheit relativiert.
Die Egozentrik der Macht
Schließlich stellt er die medienverliebte, großmannssüchtige Egozentrik und den Narzissmus Kaiser Wilhelms II. der von Trump gegenüber, um zu belegen, dass der "dümmste deutsche Kaiser" als Staatsführer in seiner Dummheit so einmalig offensichtlich nicht gewesen sei.
Es sind geistreiche, mitunter amüsante historische Essays, deren Lektüre die gegenwärtige Gefangenschaft in der Zeit kurzweiliger erleben lassen. Ja, wir leben in unsicheren Zeiten, mag man am Ende räsonnieren. "Aber der Kern des Problems liegt nicht in der Unsicherheit und Ungewissheit der Welt an sich, sondern in einer Suche nach etwas, das wir Normalität nennen." Und die lässt der von menschlichem Tun unbeeinflussbare Zufall manchmal nicht zu.