Christopher Clark: "Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürst bis zu den Nationalsozialisten"
Deutsche Verlagsanstalt, 2018
313 Seiten, 26 Euro
Mit Leidenschaft in die Zukunft denken
Wie sahen historische Führungsfiguren sich in ihrer eigenen Zeit? Aus dieser Frage entwickelt Christopher Clark eine faszinierende Vergleichsstudie, die uns aus der Gefangenschaft der Gegenwart befreien will.
Welches Buch haben wir von ihm erwartet? "Schlafwandler" Teil 2, die Geschichte vom Ende des Ersten Weltkrieges und der Grundlegung des nächsten. Damit hätte Christopher Clark seine Leserschaft allerdings nicht überrascht. Mit diesem Buch sehr wohl: "Von Zeit und Macht". Kein Buch, in dem er ein Ereignis (1914), eine Landesgeschichte (Preußen) oder einen Herrscher (Wilhelm II.) zum Thema macht, sondern eine Studie, in der er ein Phänomen mit einem nicht zu unterschätzenden Gegenwartsbezug untersucht. Wie positionieren sich politische Führungsgestalten in dem Raum, den wir Geschichte nennen? Welchen Bezug haben sie zu der Zeit, in der sie Macht ausüben?
Der Traum von angeblicher Ewigkeit
Als Preußen- und Deutschlandspezialist untersucht Clark diese Fragen am Beispiel von vier preußisch-deutschen Machthabern: Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst von Brandenburg im 17. Jahrhundert, Preußenkönig Friedrich II. im 18. Jahrhundert, Bismarck im 19. Jahrhundert und Hitler mit den Nationalsozialisten im 20. Jahrhundert. Die Befunde sind vor allem in zwei Fällen verblüffend: Friedrich und Hitler haben einen vergleichbaren Ansatz im Umgang mit ihrer Zeit und der eigenen Platzierung in einem imaginären Geschichtsraum.
Beide stehen unter dem Eindruck traumatischer Erlebnisse. Friedrich war als Heranwachsender hilflos der brutalen Gewalt seines Vaters ausgesetzt, Hitler hat das kollektive deutsche Trauma vom verlorenen Weltkrieg in sich aufgesogen. Friedrich reagiert darauf, indem er die familiäre und politische Vorgeschichte seiner Herrschaft wegwischt und sich als politische Gestalt einreiht in die Heroen der Antike. Er verfolgt keine Vision für seinen Staat und dessen politische Entwicklung, sondern sieht diesen als Teil des Auf und Ab der Menschheitsgeschichte, des Aufstiegs und Niedergangs von Staaten und Imperien, in einer "intensiv empfundene(n) Wahlverwandtschaft mit dem alten Rom". Seine Kriege führt er, um einen Platz in der Ahnengalerie derer zu erobern, die ihr Reich groß gemacht haben.
Hitler wollte keinen Fortschritt, sondern "Lebensraum"
Hitlers Nationalsozialisten ziehen ebenfalls einen scharfen Trennstrich zur Vorgeschichte ihrer Herrschaft. Auch sie schaffen sich einen zeitlosen Geschichtsraum, in dem sie ihre Herrschaft als "Neuwerdung" einer Volksgemeinschaft stilisieren, die aus germanischer Frühzeit wiederaufersteht und in der "Zeit lediglich ein Teil der Ewigkeit" ist. Damit verabschieden sich Hitler und die Nationalsozialisten von der im 19. Jahrhundert entwickelten Vorstellung von Geschichte als Prozess der Veränderung und des Fortschritts. Nicht der Fortschritt bringt das Heil, sondern der Lebensraum, den sich das rassisch geeinte Volk im wiedererwachten Bewusstsein uralter Größe erobert.
Verglichen damit ist Bismarck, der dritte von Clark untersuchte Fall, ein sehr nüchterner Realpolitiker, der mit all seiner Raffinesse gegen den Strom der Zeit zu schwimmen versucht. Er weiß, dass er die Revolution von 1848 nicht rückgängig machen kann, aber die drohende Demokratisierung versucht er auszubremsen. Darin liegt keine neue Erkenntnis, aber Clarks genaue Untersuchung, wie Bismarck dabei vorgeht, ist lesenswert.
Ein leidenschaftlich zukunftsorientiertes Buch
Bleibt der vierte Fall, der in der Chronologie (und im Buch) der erste ist: Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst von 1640 bis 1688. Er hat das ganz große Trauma zu bewältigen: den Dreißigjährigen Krieg. Unter den vieren ist er der einzige, der entschlossen die Zukunft gestaltet. In einem zähen Ringen mit seinem Provinzadel baut er ein kurfürstliches Militär auf, mit dem er verhindert, dass sein brandenburgisches Land noch einmal so schutzlos fremden Mächten ausgeliefert ist wie im Dreißigjährigen Krieg. Interessant ist, welche Argumentationsmuster gegeneinander stehen: der Adel argumentiert mit traditionellen Rechten, der Kurfürst mit künftigen Gefahren. Letztlich siegt das entschlossene Ringen um die Zukunft gegen das Beharren auf Vergangenheit und Tradition.
In dieser Hinsicht liefert das Buch aufschlussreiche Perspektiven auf die Gegenwart. Deren Herausforderungen sind derart groß, dass die Sehnsucht nach einer schön gedachten, aber eingebildeten Vergangenheit enorme Verführungskraft hat. Vor diesem Hintergrund hat Clark sein Buch geschrieben. Dessen geschichtstheoretische Einleitung wird fachlich nicht versierte Leser sicher überfordern. Aber seine Fallstudien und seine Schlussfolgerungen sind originell und überaus lesenswert. Sie sind der Versuch eines Historikers, uns aus der Gefangenschaft einer Gegenwart zu befreien, in der uns die Hoffnung auf eine gestaltbare Zukunft verloren gegangen ist. Dass dies nicht das letzte Wort der Geschichte sei: darum geht es Clark in seinem leidenschaftlich zukunftsorientierten Buch.