Christopher Isherwood: "Nur zu Besuch"
Aus dem Englischen von Michael Kellner und Volker Oldenburg
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2021
448 Seiten, 29 Euro
Nichts ist einen Krieg wert
06:21 Minuten
Ein sentimentaler Bohemien, der sich dem Sex und der Literatur verpflichtet sieht, begibt sich zwischen den Kriegen auf Weltreise. Ihm begegnen abenteuerliche Gestalten und Geschichten. Zugleich ist "Nur zu Besuch" ein Plädoyer gegen die Nazi-Barbarei.
"Als wär’s ein Stück von mir". Für seine berühmten Memoiren borgte sich der Schriftsteller Carl Zuckmayer 1968 eine Verszeile des Lyrikers Ludwig Uhland aus. Er wollte ausdrücken, wie sehr die Begleiter seines Lebens auch seine Identität prägten.
Ein ähnliches Motiv darf man Christopher Isherwood für seinen Roman "Nur zu Besuch" unterstellen. Sonst hätte er ihn nicht in vier Kapitel unterteilt, die den Namen unterschiedlicher Männer tragen. Das 1961 erschienene Werk ist nun erstmals auf Deutsch zu lesen.
Literarisches Motiv der Lebensreise
Das Buch variiert das literarische Motiv der Lebensreise. Es beginnt im Jahr 1928 und endet 1953. Heute fiele es unter das Label autofiktional. Denn der Protagonist trägt den Namen seines Autors.
Und von Großbritannien bis Kalifornien wechselt es zu Schauplätzen, an denen auch der reale Christopher Isherwood lebte. 1986 verstarb der 1904 geborene Offizierssohn in Santa Barbara.
Liebhaber von Isherwoods legendärem, 1939 erschienenem Roman "Leb wohl, Berlin" werden bei dem Buch nicht auf ihre Kosten kommen. Auch in ihm wimmelt es nur so von seltsamen Gestalten und abstrusen Geschichten. Doch dem Buch fehlt das Prickelnde und Exaltierte des Bestsellers, der dem Musical und dem Film "Cabaret" als Vorlage diente.
Von den vier leitsternartigen Figuren überzeugen Waldemar, ein junger Deutscher, den er in Berlin kennenlernt und der suizidgeneigte Paul, die "teuerste männliche Hure der Welt", mit dem er in Los Angeles in einer Wohngemeinschaft zusammenlebt. Sie verkörpern das Fluide, Unstete und tendenziell Prinzipienlose.
Suche nach Weg aus labiler Existenz
Weniger überzeugen der schwule Lebemann Ambrose, auf dessen griechische Insel er flieht, als die Nazis an die Macht kommen und in Deutschland "Mord von Amts wegen" normal wird. Oder der reaktionäre Londoner Reeder zu Beginn, der ein geheimes Faible für Poesie hat und sich schließlich erschießt.
Was alle diese Extremcharaktere eint, ist, dass sie einen "Way Out" aus den Zumutungen ihrer labilen Existenz suchen.
Trotz der mitunter dürren Prosa und manch zäher Episoden macht den Reiz des Buches aus, dass Isherwood das intime Leben seines Protagonisten vor der Geschichte der Zwischenkriegszeit entfaltet.
Während Hitler und Chamberlain im September 1938 um das Sudetenland ringen, trifft Christopher in London einen alten Liebhaber. "Wir tranken Whisky und liebten uns vor dem Spiegel" notiert er lakonisch.
Mehr Instinkt gegen rohe Barbarei als Weltanschauung
Nicht, dass dieser Mann unpolitisch wäre. Doch seine Abneigung gegen die Nazis, die das Buch wie ein roter Faden durchzieht, ist mehr dem Instinkt gegen deren rohe Barbarei als einer Weltanschauung geschuldet.
Als Schlüsselsatz eines Mannes, der als Real- wie Fiktivperson immer beobachtet, aber selten eingreift, ist der Satz zu lesen, mit dem Christopher das Münchener Abkommen kommentiert: "Ich bin fest davon überzeugt, dass nichts, aber auch gar nichts einen Krieg wert ist."
Anschlussfähig heute ist der Roman, weil er den Prototyp einer nomadischen Existenz konturiert, immer auf der Durchreise – zu Besuch eben.
Isherwood zeichnet das (Selbst-)bild eines "sentimentalen Bohemiens", dem Sex und der Literatur verpflichtet, dessen Leben wie beim Billard durch das unerwartete Auftauchen einer Kugel ihren Lauf ändert.