Chronik einer kriegerischen Epoche
Jacob Burckhardt war der freimütigste Historiker des 19. Jahrhunderts, und darum ist er der lebendigste von ihnen geblieben. Nationale oder ideologische Festlegungen waren dem altständisch-liberalen, kunstsinnigen, zeitdiagnostisch aufmerksamen Basler Stadtbürger mit seinem Sinn für Abgründe fremd.
Weil er schrieb, um zu sprechen, seinen unendlichen Fleiß also vor allem in die Vorbereitung von Vorlesungen und Vorträgen steckte, die er dann ganz frei, ohne Manuskripte, hielt, gelangen ihm immer wieder Formulierungen von größter Einfachheit und Entschiedenheit. "Wer solche Kriege führte wie er 1740", erklärte Burckhardt im Wintersemester 1867/68 über Friedrich den Großen, "wer solche Dinge tut, solche Härte zeigt, um dessen Religion bekümmere ich mich nicht viel, an dem interessiert mich nicht, was er geglaubt habe, oder sich einbildete, geglaubt zu haben." Zur selben Zeit redete der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck davon, die Deutschen fürchteten Gott, aber sonst nichts auf der Welt, im Übrigen aber würden die Fragen der Zeit mit Blut und Eisen gelöst.
Es ist ein schöner Gewinn des Friedrich-Jahres 2012, dass nun Burckhardts Vorlesungen über die Zeit Friedrichs des Großen aus vorbereitenden Notizen und Mitschriften von Studenten für ein gebildetes Publikum rekonstruiert werden konnten. Geleistet hat diese voraussetzungsreiche Arbeit der St. Galler Historiker Ernst Ziegler, ein Schüler des Burckhardt-Biografen Ernst Kaegi und einer der besten Kenner von Burckhardts riesenhaftem Nachlass.
Wir erhalten dabei keine Biografie, sondern eine so knappe wie originelle Übersicht zur europäischen Geschichte seit 1763, dem Jahr, in dem Friedrich der Große mit dem Ende des Siebenjährigen Krieges Preußen definitiv als europäische Großmacht etablierte. Seither gab es den "deutschen Dualismus", und seither war das europäische Staatensystem in jener Unordnung, die die Gründung eines deutschen Nationalstaates erst möglich machte – so sah es der weitblickende Burckhardt. Und seither war Frankreich, das auf der Seite Österreichs gegen Friedrich gekämpft und verloren hatte, so geschwächt und verschuldet, dass die Revolution sich nicht mehr vermeiden ließ.
Ihr, der Revolution, arbeitete aber auch ein Geist der Zeit vor, zu dem Friedrich viel beitrug: Er ist für Burckhardt ein großer Exponent der Epoche, nicht ihr Schöpfer oder Herr. Er nennt ihn "den größten Sohn seiner Zeit", was ein verschattetes Lob ist. Vor allem "riesige Willenskraft" billigt er dem gewissenlosen Erobererkönig zu, von dessen Äußeren er sagt: "Später war sein Gesicht verzogen und voll merkwürdiger Ecken und Falten. Sein blauforschendes Auge hatte eher etwas schreckendes."
Während zur selben Zeit der britische Historiker Thomas Carlyle ein üppiges Heldenepos zu Friedrich vorlegte oder Franz Kugler, Burckhardts Berliner Lehrer, zusammen mit Adolf Menzel sein berühmtes Volksbuch herausbrachte, beharrte der Schweizer mit Nüchternheit auf dem menschlich-konkreten Detail. Jeder dreiunddreißigste Mann war in Preußen nach 1763 Soldat, rechnete er aus. Viele Krüppel hatte der Krieg hinterlassen. "Für die Invaliden war nicht gesorgt; viele lagen nach den Schlachten ihm (dem König) fluchend an den Straßen. Er soll lieber einen Toten als einen Invaliden gehabt und deshalb die Amputationen nicht gerne gesehen haben."
Dabei ist Burckhardt alles andere als ein simpler Moralist. Er zeichnet das Bild einer blendenden, aber geistig erkaltenden Zeit. Die polnische Teilung, die Friedrich zusammen mit der russischen Zarin Katharina und der widerwilligen österreichischen Kaiserin Maria Theresia ins Werk setzte, wird ihm zu einem folgenreichen Symptom – den verbrecherischen Zug daran notiert Burckhardt fast beiläufig. Wer dieses Buch liest, lernt nicht nur viel über das 18. Jahrhundert, sondern auch etwas über das historische Denken eines großen Europäers in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Schriftsteller Hans Pleschinski, der eine Übersetzung des Briefwechsels von Voltaire und Friedrich vorgelegt hat, steuert einen brillanten Essay aus heutiger Sicht bei.
Besprochen von Gustav Seibt
Jacob Burckhardt: Das Zeitalter Friedrichs des Großen
Aus dem Nachlass erstmals ediert und bearbeitet von Ernst Ziegler
Mit einem Essay von Hans Pleschinski
Verlag C.H. Beck, München 2012
255 Seiten, 19,95 Euro
Mehr zum Thema auf dradio.de:
Sammelportal Friedrich der Große
Es ist ein schöner Gewinn des Friedrich-Jahres 2012, dass nun Burckhardts Vorlesungen über die Zeit Friedrichs des Großen aus vorbereitenden Notizen und Mitschriften von Studenten für ein gebildetes Publikum rekonstruiert werden konnten. Geleistet hat diese voraussetzungsreiche Arbeit der St. Galler Historiker Ernst Ziegler, ein Schüler des Burckhardt-Biografen Ernst Kaegi und einer der besten Kenner von Burckhardts riesenhaftem Nachlass.
Wir erhalten dabei keine Biografie, sondern eine so knappe wie originelle Übersicht zur europäischen Geschichte seit 1763, dem Jahr, in dem Friedrich der Große mit dem Ende des Siebenjährigen Krieges Preußen definitiv als europäische Großmacht etablierte. Seither gab es den "deutschen Dualismus", und seither war das europäische Staatensystem in jener Unordnung, die die Gründung eines deutschen Nationalstaates erst möglich machte – so sah es der weitblickende Burckhardt. Und seither war Frankreich, das auf der Seite Österreichs gegen Friedrich gekämpft und verloren hatte, so geschwächt und verschuldet, dass die Revolution sich nicht mehr vermeiden ließ.
Ihr, der Revolution, arbeitete aber auch ein Geist der Zeit vor, zu dem Friedrich viel beitrug: Er ist für Burckhardt ein großer Exponent der Epoche, nicht ihr Schöpfer oder Herr. Er nennt ihn "den größten Sohn seiner Zeit", was ein verschattetes Lob ist. Vor allem "riesige Willenskraft" billigt er dem gewissenlosen Erobererkönig zu, von dessen Äußeren er sagt: "Später war sein Gesicht verzogen und voll merkwürdiger Ecken und Falten. Sein blauforschendes Auge hatte eher etwas schreckendes."
Während zur selben Zeit der britische Historiker Thomas Carlyle ein üppiges Heldenepos zu Friedrich vorlegte oder Franz Kugler, Burckhardts Berliner Lehrer, zusammen mit Adolf Menzel sein berühmtes Volksbuch herausbrachte, beharrte der Schweizer mit Nüchternheit auf dem menschlich-konkreten Detail. Jeder dreiunddreißigste Mann war in Preußen nach 1763 Soldat, rechnete er aus. Viele Krüppel hatte der Krieg hinterlassen. "Für die Invaliden war nicht gesorgt; viele lagen nach den Schlachten ihm (dem König) fluchend an den Straßen. Er soll lieber einen Toten als einen Invaliden gehabt und deshalb die Amputationen nicht gerne gesehen haben."
Dabei ist Burckhardt alles andere als ein simpler Moralist. Er zeichnet das Bild einer blendenden, aber geistig erkaltenden Zeit. Die polnische Teilung, die Friedrich zusammen mit der russischen Zarin Katharina und der widerwilligen österreichischen Kaiserin Maria Theresia ins Werk setzte, wird ihm zu einem folgenreichen Symptom – den verbrecherischen Zug daran notiert Burckhardt fast beiläufig. Wer dieses Buch liest, lernt nicht nur viel über das 18. Jahrhundert, sondern auch etwas über das historische Denken eines großen Europäers in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Schriftsteller Hans Pleschinski, der eine Übersetzung des Briefwechsels von Voltaire und Friedrich vorgelegt hat, steuert einen brillanten Essay aus heutiger Sicht bei.
Besprochen von Gustav Seibt
Jacob Burckhardt: Das Zeitalter Friedrichs des Großen
Aus dem Nachlass erstmals ediert und bearbeitet von Ernst Ziegler
Mit einem Essay von Hans Pleschinski
Verlag C.H. Beck, München 2012
255 Seiten, 19,95 Euro
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