Chronik einer vergessenen Stadt
Der 1981 verstorbene Erzähler und Poet Gennadij Gor zählt zur sogenannten Leningrader Avantgarde. Nun erscheinen sowohl ein Erzählungs- als auch ein Gedichtband von ihm. Seine frühen Texte haben seltsame Helden. Wer zu lesen versteht, entdeckt hinter den Narrenstücken den realen Terror der Stalin-Zeit.
Gennadij Gor, geboren östlich des Baikalsees, war eben zehn Jahre alt, als im fernen Petrograd die Revolution der Bolschewiki ausbrach. 16-Jährig kam Gor zum Studium der Literatur in dieses Petrograd (ab 1924 Leningrad). Mit Anfang 20 erlebte er hier die stalinistischen Repressionen, mit 34 den Beginn der Blockade durch Hitlers Wehrmacht. Die Einkesselung dauerte 900 Tage; Millionen Menschen starben. Schließlich, nach dem Sieg, wurde die Stadt erneut von Stalin drangsaliert.
Der Erzähler und Poet Gor (1907-81), Protagonist der Leningrader Avantgarde, gehörte zu einer wahrhaft tragischen Generation. Bekannte seiner letzten Jahre schilderten ihn als scheu und vorsichtig. Er hatte Angst, augenscheinlich - und war dennoch zeitlebens ein kritischer Beobachter, mithin kein "Sowjetschriftsteller". (Ein Literaturlexikon etikettierte ihn 1964 als Autor "wissenschaftlicher Phantastik", exzentrisch in der Form, mit "manierierter Sprache".)
Der Alltag in Gors Stadt war absurd, bizarr, wahnwitzig – und dieser Wahnwitz floss in seine Literatur. Kam ihm eine "phantastische" Idee, baute er um die Idee herum seinen Text, oft ohne Handlung, scheinbar ohne Logik, dafür von atemberaubender Leuchtkraft. Jede Geschichte ein Spiel mit ungewissem Ausgang. Ja, dieser Dichter war ein Spieler, ein Spötter, er provozierte gern, zerpflückte Losungen, Phrasen, Kürzel und Mythen, den ganzen "Neusprech" der sowjetrussischen Bürokratenkaste.
Die Sammlung "Das Ohr" vereint nun Erzählungen aus den Dreißigern, ein Halbdutzend Grotesken. Seltsame Helden haben diese Geschichten. Ein Maler malt ein Teeglas, nur ein Glas, Tag für Tag, er kann nichts anderes. Subtile Kritik am "sozialistischen Realismus": In Galerien landet eines dieser Glas-Stilleben, L'art pour l'art, "unter revolutionären Bildern, unter sich aufbäumenden Maschinen und wie Frühlingsfluten angeschwollenen Muskeln, unter Fahnen, Bewegung und Menschen".
In einem weiteren Text löst eine Frau sich auf, kommt ihrem Mann abhanden, Hand, Arm, Rumpf, nur ein Ohr bleibt ihm, das er zärtlich verwahrt. Ein anderer Mann existiert, obgleich er vor Tagen spurlos verschwand, in der Küche seiner Ehefrau als Teekessel fort; er sieht und hört die Geliebte (auch ihren neuen Liebhaber) und bleibt selbst unsichtbar, zur Sprachlosigkeit verdammt. Wer zu lesen versteht, entdeckt hinter den Narrenstücken den realen Terror der Stalin-Zeit.
Ein paar Geschichten der vorliegenden Sammlung konnten 1933 in einem Bändchen erscheinen, einige Texte (die über die Verschwundenen) blieben lange verborgen. Wieder andere Arbeiten wurden noch nie gedruckt: Gors Gedichte über die Blockade Leningrads.
"Hündisch heult die Sirene.
Die Häuser froren im Alarm."
Bis heute ist dieses Drama Trauma und Tabu, aus unserem Gedächtnis so gründlich getilgt wie aus dem der Russen.
"Ich liege mit meiner Frau zu zweit in der Wohnung.
Ich kann weder Arme noch Beine heben,
Sie nicht forttragen. Sie liegt, ich liege.
Sie schläft nicht und ich schlafe nicht.
Und beide blicken wir einander an
Ein Lebender und ein Leichnam, du und ich."
Über private Kanäle gelangte das Lyrik-Konvolut nach Deutschland. Der Leser - Herausgeber und Übersetzer Peter Urban verweist mit Stolz darauf - hält nun eine doppelte Erstveröffentlichung in Händen: "den vollständigen Gedichttext auf russisch und seine deutsche Übersetzung". Die Verse (verfasst 1942 bis 1944) sind wie Albdrücken, Visionen voll Todesahnung, aber auch voller Überlebenstrotz. Sie fügen sich zur Chronik einer vergessenen Stadt.
"Ein roter Tropfen im Schnee. Und ein Junge
Mit grünem Katzengesicht.
Vorbei gehn Menschen über seine Beine, seine Augen.
Sie haben es eilig. Ladenschilder erscheinen:
'Butter', 'Brötchen', 'Bier',
Als gäbe es ein Brötchen auf der Welt.
Das Haus, das liebe, aufgerissen hat es
Die Türen und Fenster, sich selbst.
Doch mir träumt meine Kindheit.
Großmutter mit den kleinen Händen.
Gänse. Berge."
Rezensiert von Uwe Stolzmann
Gennadij Gor: Das Ohr. Phantastische Geschichten aus dem alten Leningrad
Friedenauer Presse, Berlin 2007.
160 Seiten, 16 Euro.
Blockade. Gedichte
Edition Korrespondenzen, Wien 2007.
247 Seiten, 23 Euro.
Beide Bücher wurden aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Peter Urban.
Der Erzähler und Poet Gor (1907-81), Protagonist der Leningrader Avantgarde, gehörte zu einer wahrhaft tragischen Generation. Bekannte seiner letzten Jahre schilderten ihn als scheu und vorsichtig. Er hatte Angst, augenscheinlich - und war dennoch zeitlebens ein kritischer Beobachter, mithin kein "Sowjetschriftsteller". (Ein Literaturlexikon etikettierte ihn 1964 als Autor "wissenschaftlicher Phantastik", exzentrisch in der Form, mit "manierierter Sprache".)
Der Alltag in Gors Stadt war absurd, bizarr, wahnwitzig – und dieser Wahnwitz floss in seine Literatur. Kam ihm eine "phantastische" Idee, baute er um die Idee herum seinen Text, oft ohne Handlung, scheinbar ohne Logik, dafür von atemberaubender Leuchtkraft. Jede Geschichte ein Spiel mit ungewissem Ausgang. Ja, dieser Dichter war ein Spieler, ein Spötter, er provozierte gern, zerpflückte Losungen, Phrasen, Kürzel und Mythen, den ganzen "Neusprech" der sowjetrussischen Bürokratenkaste.
Die Sammlung "Das Ohr" vereint nun Erzählungen aus den Dreißigern, ein Halbdutzend Grotesken. Seltsame Helden haben diese Geschichten. Ein Maler malt ein Teeglas, nur ein Glas, Tag für Tag, er kann nichts anderes. Subtile Kritik am "sozialistischen Realismus": In Galerien landet eines dieser Glas-Stilleben, L'art pour l'art, "unter revolutionären Bildern, unter sich aufbäumenden Maschinen und wie Frühlingsfluten angeschwollenen Muskeln, unter Fahnen, Bewegung und Menschen".
In einem weiteren Text löst eine Frau sich auf, kommt ihrem Mann abhanden, Hand, Arm, Rumpf, nur ein Ohr bleibt ihm, das er zärtlich verwahrt. Ein anderer Mann existiert, obgleich er vor Tagen spurlos verschwand, in der Küche seiner Ehefrau als Teekessel fort; er sieht und hört die Geliebte (auch ihren neuen Liebhaber) und bleibt selbst unsichtbar, zur Sprachlosigkeit verdammt. Wer zu lesen versteht, entdeckt hinter den Narrenstücken den realen Terror der Stalin-Zeit.
Ein paar Geschichten der vorliegenden Sammlung konnten 1933 in einem Bändchen erscheinen, einige Texte (die über die Verschwundenen) blieben lange verborgen. Wieder andere Arbeiten wurden noch nie gedruckt: Gors Gedichte über die Blockade Leningrads.
"Hündisch heult die Sirene.
Die Häuser froren im Alarm."
Bis heute ist dieses Drama Trauma und Tabu, aus unserem Gedächtnis so gründlich getilgt wie aus dem der Russen.
"Ich liege mit meiner Frau zu zweit in der Wohnung.
Ich kann weder Arme noch Beine heben,
Sie nicht forttragen. Sie liegt, ich liege.
Sie schläft nicht und ich schlafe nicht.
Und beide blicken wir einander an
Ein Lebender und ein Leichnam, du und ich."
Über private Kanäle gelangte das Lyrik-Konvolut nach Deutschland. Der Leser - Herausgeber und Übersetzer Peter Urban verweist mit Stolz darauf - hält nun eine doppelte Erstveröffentlichung in Händen: "den vollständigen Gedichttext auf russisch und seine deutsche Übersetzung". Die Verse (verfasst 1942 bis 1944) sind wie Albdrücken, Visionen voll Todesahnung, aber auch voller Überlebenstrotz. Sie fügen sich zur Chronik einer vergessenen Stadt.
"Ein roter Tropfen im Schnee. Und ein Junge
Mit grünem Katzengesicht.
Vorbei gehn Menschen über seine Beine, seine Augen.
Sie haben es eilig. Ladenschilder erscheinen:
'Butter', 'Brötchen', 'Bier',
Als gäbe es ein Brötchen auf der Welt.
Das Haus, das liebe, aufgerissen hat es
Die Türen und Fenster, sich selbst.
Doch mir träumt meine Kindheit.
Großmutter mit den kleinen Händen.
Gänse. Berge."
Rezensiert von Uwe Stolzmann
Gennadij Gor: Das Ohr. Phantastische Geschichten aus dem alten Leningrad
Friedenauer Presse, Berlin 2007.
160 Seiten, 16 Euro.
Blockade. Gedichte
Edition Korrespondenzen, Wien 2007.
247 Seiten, 23 Euro.
Beide Bücher wurden aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Peter Urban.