Chronist des türkischen Bürgertums

Mit fast 30-jähriger Verspätung liegt der Debütroman des türkischen Nobelpreisträgers Orhan Pamuk, "Cevdet und seine Söhne", nun in deutscher Übersetzung vor. Der Familienroman umfasst drei Generationen und ist als Triptychon angelegt.
Zwei schmale Flügel rahmen das große Hauptstück in der Mitte. Am Beispiel einer wohlhabenden osmanischen Sippe in Istanbul wird so ein Zeitraum von 65 Jahren überblickt, vom Untergang der Sultanswelt bis zu den Demokratie-Krisen und Militärputschen.

Eingangs wird ein Tag im Leben Cevdets, des Gründervaters der Dynastie, im Jahr 1905 geschildert, der als einer der ersten osmanischen Kaufleute in der von Juden, Griechen und Armeniern beherrschten Geschäftswelt Istanbuls Fuß fassen kann; am Ende steht ein Tag im Leben von Cevdets Künstler-Enkel Ahmet im Jahr 1970.

Im großen Mittelstück des Romans konzentriert sich Pamuk auf die drei Jahre unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Erzählt werden diese Jahre aus der Sicht dreier junger Männer Ende zwanzig. Protagonisten sind der jüngere Sohn des Unternehmer-Patriarchen Cevdet und seine beiden Studienfreunde – ein Ingenieur, der beim Eisenbahnbau reich wird, und ein Möchtegern-Dichter à la Baudelaire, der zu den faschistischen türkischen Nationalisten abdriftet.

Die - zumeist betrunkenen - Streitgespräche der drei Freunde sind zugleich politische Debatten zur Standort-Bestimmung der Türkei. Der Romantitel geht also über die familiäre, dynastische Bedeutung hinaus: Mit den "Söhnen" ist ganz allgemein die Generation der Bürgersöhne gemeint, die in ihrer eigenen Existenz alle Widersprüche zwischen Ost und West, rigiden gesellschaftlichen Normen und Liberalisierung, Rückständigkeit und Fortschritt durchleben: rastlos, unzufrieden und entschlusslos.

In endlosen Klagereden schwanken sie zwischen der Sehnsucht nach Aufbruch und dem trägen Zurücksinken in den gemütlichen Familien-Mief. Sie jammern über die türkische Misere, beneiden die Europäer um ihre Tatkraft, schwadronieren von Reformen – doch letztlich fehlt ihnen die existenzielle Dringlichkeit, an ihren zwar langweiligen, aber doch sehr behaglichen Lebensumständen Entscheidendes zu ändern.

Im Nachwort bekennt Orhan Pamuk, er habe sich für diesen Roman "jahrelang ein wenig geschämt", weil er sich so offensichtlich an die Tradition des europäischen Familienromans, an "Buddenbrooks" und "Anna Karenina", anlehne. Tatsächlich sind "Cevdet und seine Söhne" die raffinierten postmodernen Erzähltechniken, die Pamuks späteres Werk bestimmen, noch nicht anzumerken. Insofern ist dieses Buch in seiner Machart selbst ein Beispiel für sein Thema – die verspätete und nachholende Imitation westlicher Kultur in einer desorientierten, zwischen Ost und West, Traditionalismus und Modernisierung schwankenden und von Identitätszweifeln geplagten Türkei.

Gleichwohl ist Pamuks Debüt aus dem Jahre 1982 die bemerkenswerte Talentprobe eines Autors Mitte zwanzig, der mit Scharfblick und Begabung soziale und politische Milieus in prägnanten Figuren zeichnen kann. Nachdrücklich kündigt sich mit diesem Gesellschaftspanorama der große Beobachter und Chronist des türkischen Bürgertums an.

Besprochen von Siegrid Löffler

Orhan Pamuk: Cevdet und seine Söhne
Roman
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier
Hanser Verlag, München 2011
660 Seiten, 24,90 Euro