Chronistin auf Zeit

Von Carsten Beyer |
Sarah Jana Portner schreibt ein halbes Jahr lang die Geschicke der diesjährigen Europäischen Kulturhauptstadt Tallinn auf. Immer mehr Städte leisten sich solche Stadtschreiber – meist als Imagepflege.
Tallinn im Sommer gleicht einem mittelalterlichen Jahrmarkt: Kostümierte Straßenmusiker und Feuerschlucker drängeln sich in den Gassen rund um den berühmten Rathausplatz, Restaurantwerber versuchen lautstark große Gruppen von Kreuzfahrt-Touristen in ihre Lokale zu locken.

Mittendrin steht eine schlanke junge Frau mit braunen Haaren, die aufmerksam das Geschehen beobachtet. Obwohl Sarah Jana Portner schon seit einigen Monaten in der estnischen Hauptstadt lebt, kann sie sich an dem bunten Treiben in der Altstadt noch immer nicht satt sehen.

"Ja, es ist richtig viel los in der Stadt. Also, von meinem Fenster, was direkt zur Straße rausgeht, ist es nachts lauter als tagsüber, also ab Mitternacht geht’s da erst richtig los. Es ist unglaublich und ich hab auch wirklich das Gefühl, die Leute sind hungrig, also die lechzen nach Licht und draußen sitzen und sich die Sonne auf die Haut scheinen lassen und Cocktails trinken und Wein und Bier draußen."

Unter mehr als 50 Bewerbern ist Sarah vom Deutschen Kulturforum östliches Europa für die Stelle des Tallinner Stadtschreibers ausgewählt worden. Ein halbes Jahr lang soll sie in ihrem Blog alles aufschreiben, was ihr in der Stadt berichtenswert erscheint

"Die Themen entstehen immer aus dem, was ich erlebe, was ich gesehen habe, was ich gelernt habe. Also, das ich wirklich historische Themen aufgreife, Momentaufnahmen, poetischere Momente. Manchmal habe ich auch nur ein Foto und zwei, drei Sätze dazu, wenn es eben diesen Augenblick dazu gab. Ich glaub auch, dass der Blog sich entwickelt."

"Mittwoch, 13. Juli. Eine große Sommerfaulheit befällt in diesen Tagen die Menschen. Viele Bekannte sind jetzt auf ihren Sommerhäusern und nach all ihren Erzählungen stelle ich mir vor, dass sie den ganzen Tag nur auf der Veranda sitzen und Walderdbeeren naschen.

Ich habe kein Sommerhaus. Mein liebstes Fluchtziel für den Alltag ist die Halbinsel Paljassaare, nordwestlich vom Stadtzentrum. Dort ist die Natur herrlich ungebändigt. Die Halbinsel war sowjetisches Sperrgebiet und mit dickem Stacheldrahtzaun gegen die Außenwelt geschützt. Jetzt bröckeln die Zäune und Wachtürme gemächlich vor sich hin und überlassen das Gebiet bereitwillig den Vögeln und den Anglern."


Sarah Jana Portner war schon vom Baltikum fasziniert, lange bevor sie nach Tallinn kam. Deswegen hat sie auch - daheim an der Uni in Passau - das Fach Wirtschafts- und Kulturraumstudien belegt, mit Schwerpunkt Osteuropa.

"Das fing alles irgendwann mal an - vor über 10 Jahren - mit einem Schüleraustausch mit Russland. Naja, und da habe ich festgestellt, dass eben dieses Gebiet, was eben 20 Jahre nach dem Fall des eisernen Vorhangs bei uns immer noch nicht so stark im Bewusstsein präsent ist wie andere Gegenden in Europa, dass das einfach wirklich spannend ist."

"Donnerstag, 28. Juli. Im Tammsaare-Park habe ich gestern etwas Lustiges entdeckt: Strick-Graffiti! Eine Alternative zum Topflappen für Mutti. Viele, viele Schulkinder haben gestrickt und gehäkelt und nun verschönern ihre Werke die Bäume im Park. In Deutschland habe ich so was noch nie gesehen. Vielleicht passen die Strick-Graffiti deshalb so gut ins Baltikum, weil sie gleichzeitig verspielt und unprätentiös sind."

Neben ihrem Blog, den sie fast täglich mit neuen Einträgen füttert, hat Sarah auch noch andere Aufgaben als Stadtschreiberin von Tallinn. Gerade arbeitet sie an einer Fotoausstellung, die nach ihrer Rückkehr in mehreren deutschen Städten zu sehen sein soll - und sie trifft sich immer wieder mit Besuchergruppen, die jetzt während des Kulturhauptstadt-Jahres in Scharen die estnische Hauptstadt besuchen. An diesem Abend ist sie mit einer Journalistengruppe aus Berlin in einer der vielen Spezialitäten- Restaurants in der Altstadt unterwegs.

Sarahs liebste Beschäftigung sind aber ihre sogenannten Brieffreundschaften. E-Mail Wechsel sind das, mit Menschen in Deutschland, die sich genauso wie sie für Estland interessieren und mit denen sie sich über ihre Erlebnisse austauscht. Eine Schulklasse in Brandenburg ist dabei, ein Estnisch-Kurs an der Uni Heidelberg und eine deutsch-estnische Literaturübersetzerin. Am wichtigsten aber ist ihr der Kontakt zu Menschen, die noch das alte Erbe der Stadt kennen, aus der Zeit als Tallinn noch Reval hieß. So wie die Familie von Auer, die heute in Mainz lebt.

"Frank von Auer ist selbst noch in Reval geboren 1939, und ist jetzt Vorsitzender der deutsch baltischen Gesellschaft und seine Mutter ist 1916 in Reval geboren, hat also die ersten 23 Jahre hier verbracht. Das ist ihre Heimatstadt. Frank von Auer liest die Briefe seiner Mutter im Altersheim vor und hält dann wieder fest, was sie mir auszurichten hat. Und gerade diese Briefwechsel mit Sohn und Mutter Auer, die sind für mich auch die Möglichkeit, eine Stadt kennenzulernen, die ich gar nicht mehr kennenlernen kann."

Egal ob in der Vergangenheit oder der Gegenwart: Sarah Jana Portner ist glücklich in Tallinn. Was sie machen will, wenn sie im Herbst wieder zurück nach Deutschland muss, darüber möchte sie sich am liebsten noch gar keine Gedanken machen. Als Journalistin würde sie gerne arbeiten, oder als Schriftstellerin. Und vielleicht - so hofft sie - findet sich ja dann auch ein Verlag, der ihre Internet-Tagebücher in Buchform herausbringt.

Links bei dradio.de
Europas neue Metropolregion im Norden
Tallinn, Europäische Kulturhauptstadt 2011

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Blog der Tallinner Stadtschreiberin
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