Cineastische Zeitreise

Robert Bobers Roman ist eine Zeitreise in das Paris der 60er-Jahre, als der Autor Drehorte für Francois Truffaut ausfindig machte und noch nicht ahnte, dass er selber filmen und sehr viel später einmal Romane schreiben würde. Die Titelzeile ist einem Gedicht von Paul Reverdy entlehnt, doch könnte der Roman auch "Begegnungen" heißen.
Robert Bober verneigt sich vor Regisseuren, Fotografen, Poeten und Sängern, deren Werke ihn ästhetisch prägten, und er erzählt dabei die "jüdische Version" der Geschichte, die dem Kultfilm "Jules und Jim" zugrunde liegt.

In jedem Roman von Robert Bober begegnet man auch dem Autor selbst: Er ähnelt dem Näher Maurice Abramowicz, der in "Was gibt's Neues vom Krieg?" mit den Angestellten eines Konfektionsateliers über ihr Leben vor und nach der Schoah redet. Und er teilt die Erfahrungen des jungen Joseph Berg, der am Wochenende jüdische Waisenkinder besuchte, um sie für Jazzmusik, die Marx-Brothers und die Tour de France zu begeistern.

So unverstellt wie in seinem jüngsten Buch ist der 80-jährige Autor uns jedoch noch nie entgegen getreten. Er ist Robert, der als Truffauts Assistent den Osten von Paris durchstreifte, um Drehorte für den Film "Jules und Jim" zu finden. Bober, der "unverbesserliche Spaziergänger", kennt die Stadt vermutlich wie kaum ein anderer. Sie ist für ihn zu einem "durchsichtigen Gewebe" geworden. Hinter jeder neuen Hausfassade sieht er noch das alte Gebäude durchschimmern. Mit diesem Buch lässt sich ein verschwundenes Paris erkunden.

Der Erzähler des Romans heißt Bernard Appelbaum. Er und Robert sind sich in einer jüdischen Ferienkolonie begegnet. Robert verschafft dem Jüngeren eine Rolle als Statist in Truffauts Film "Jules und Jim". Als der Film 1962 in die Kinos kommt, sieht sich Bernard mit seiner Mutter eine Vorstellung an. Das fiktive Geschehen ruft Erinnerungen wach. Dass zwei Freunde eine Frau lieben, hat sie selbst erfahren, damals in Polen, vor der Emigration nach Frankreich. Sie verlor beide Männer gewaltsam. Geblieben sind die Söhne Bernard und Alex so wie die jiddisch sprechende Großmutter. Wieder zu Hause, öffnet Bernards Mutter eine Schuhschachtel mit alten Fotografien. Sie werden zum Schlüssel für eine bis dahin verborgene familiäre Welt.

Bober schickt seinen Erzähler auf Spurensuche und vergegenwärtigt Ereignisse aus der Zeit, als die deutschen Besatzer die französischen Gendarmen anhielten, Razzien zu organisieren und Juden zu deportieren. Er verbietet sich Sentimentalitäten und verbindet die Rekonstruktion von Fluchtwegen mit Streifzügen durch das Paris, in dem man Leuten wie dem legendären, volksnahen Poeten und Journalisten Bob Giraud begegnen konnte. Der pflegte in Bistrots sein "Laster" und sammelte unermüdlich Geschichten. Diesem immer abkömmlichen "Fachmann fürs Zuhören" ähnelt der Autor. Er schweift ab, verliert sein Ziel jedoch nicht aus den Augen. Bober rekonstruiert eine Familiengeschichte.

Am Ende dieses semi-dokumentarischen Romans wird Bernard Appelbaum in einer Baracke des Konzentrationslagers Auschwitz vor einer Vitrine stehen und auf einem Foto das Gesicht seines lächelnden Vaters entdecken. Robert Bober, der Menschenfreund, setzt hinzu: "Er lächelte mir zu."

Besprochen von Sigrid Brinkmann

Robert Bober: Wer einmal die Augen öffnet, kann nicht mehr ruhig schlafen
Roman
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel
Antje Kunstmann Verlag, München 2011
284 Seiten, 19,90 Euro
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