City of Birmingham Symphony Orchestra

Ein Kind unserer Zeit

Eine junge Frau blickt freundlich und hebt den linken Zeigefinger. In der anderen Hand hält sie einen Dirigierstab.
Chefdirigentin Mirga Gražinytė-Tyla hat zwei große ernste Werke zum Saisonauftakt gewählt © Universal Music
Moderation: Volker Michael |
Saisonstart bei der Birmingham Symphony: In seinem gewaltigen Werk über die Verfolgung der Juden in Deutschland orientierte sich Michael Tippett an den Passionen Bachs und den Oratorien Händels. Mirga Gražinytė-Tyla leitete damit die Spielzeit ein.
Der Komponist Michael Tippett war in seiner späten Jugend Trotzkist und befürwortete den gerechten Mord. Viele Sympathien hegte er für Herschel Grynszpan, den jungen Juden aus Hannover, der in Paris den Botschaftsrat von Rath erschossen hatte. Grynszpan lieferte den Nazis ungewollt den perfekten Anlass für die Reichspogromnacht. Sieht man sich seine Biografie an, entdeckt man bestechende Ähnlichkeiten zur Situation heutiger Geflüchteter in Europa, die im Niemandsland zwischen bürokratischen Vorschriften und realen Grenzzäunen zerdrückt werden.

Ein Oratorium für die Verfolgten

Michael Tippett wurde zum radikalen Pazifisten und ging sogar ins Gefängnis, weil er den Kriegsdienst in der britischen Armee und den Zivildienst während des Krieges gegen Nazideutschland und die Achsenmächte verweigerte. Wesentliche Teile des Oratoriums "A Child of Our Time", das Herschel Grynszpans Leben und Tat aufgreift, komponierte er, während die Deutsche Wehrmacht England bombardierte. Als sich später das Kriegsgeschick langsam drehte, wurde das Oratorium uraufgeführt und als wichtigster Beitrag der englischen Musik zur Zeit und Weltlage gefeiert. Es ist das bis heute am häufigsten aufgeführte Werk des Komponisten geblieben. Einer Aufführung in Israel während der 1960er Jahre konnte sogar der überlebende Vater Herschel Grynszpans beiwohnen.

Spirituals zum Mitsingen

Das Oratorium pflegt einen universellen Anspruch - Tippett verwendet darin Spirituals afroamerikanischer Herkunft, die sogar vom Publikum mitgesungen werden sollen. Die Chefdirigentin des CBSO, Mirga Gražinytė-Tyla, und der Leiter des Chors, Simon Halsey, haben darauf geachtet, dass an zwei Stellen das Auditorium in die Aufführung aktiv eingebunden wurde. So wie es der Komponist gewünscht hat.
Der britische Komponist Benjamin Britten am 14. April 1953 in London.
Der britische Komponist Benjamin Britten am 14. April 1953 in London.© picture alliance / dpa / Central Press
Auch der erste Teil dieses Saisonauftaktkonzerts am 26. September in der Symphony Hall war ernst und bezog sich auf den zweiten Weltkrieg: Benjamin Britten, ebenfalls Pazifist wie Tippett, hatte 1939 eine "Sinfonia da Requiem" geschrieben, eine textlose Totenmesse für Orchester in drei Sätzen mit den Titeln "Lachrymae, Dies Irae und Requiem aeternam". Abstrus ist der Entstehungshintergrund dieses Anti-Kriegsstückes.

Anonyme Auftraggeber

Es war eigentlich ein Auftragswerk an Britten, das von der japanischen Botschaft bestellt wurde, kurz bevor das Land auf der Seite der Achsenmächte in den Krieg eintrat. Als Britten diesen Hintergrund erfuhr, fühlte er sich in der Wahl des dunklen Grundtons bestätigt, weil er wusste, dass Krieg und Völkermorde kommen würden. Die Japaner wiederum empfanden das Werk als Affront, denn es sollte eigentlich eine Hymne auf das 2600-jährige Bestehen ihrer Herrscherdynastie sein.
Der Biograf Michael Tippetts, Oliver Soden, über die Hintergründe des Entstehens und der Inhalte des Oratoriums "A Child of Our Time" - die Auskünfte des Autors können Sie hier nachhören:
Symphony Hall, Birmingham
Aufzeichnung vom 26. September 2019
Benjamin Britten
Sinfonia da Requiem
Michael Tippett
"A Child of Our Time", Oratorium in drei Teilen für Soli, Chor und Orchester

Talise Trevigne, Sopran
Dame Felicity Palmer, Mezzosopran
Joshua Stewart, Tenor
Brindley Sherratt, Bass
City of Birmingham Symphony Chorus and Orchestra
Einstudierung: Simon Halsey
Leitung: Mirga Gražinytė-Tyla

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