Ciudad Juárez in Mexiko

Eine Stadt und ihre Mörder

23:17 Minuten
Eine junge Frau mit langem schwarzen Zopf und Fahrrad betrachtet ein Wandgemälde, das ein Frauengesicht mit leeren Augenhöhlen zeigt, drumherum viele Augen.
Ciudad Juárez ist berüchtigt für seine Frauenmorde. Auch die Künstlerin Isabel Cabanillas, von der das Wandbild stammt, wurde ermordet. © Kathrin Zeiske
Von Kathrin Zeiske und Erika Harzer |
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Das Image von Ciudad Juárez in Mexiko könnte schlechter nicht sein: Brutale Serienmorde an Frauen haben die Grenzstadt in Verruf gebracht. Heute prägen Drogenhandel, Billiglohn-Fabriken und Gewalt das Leben dort. Kann man diese Stadt lieben?
Lizbeth Nuñez stützt sich auf ihr Fahrrad. Sie zeigt auf ein riesiges Kreuz voller kleiner weißer Zettel.
"Hier sind wir an der Grenze, an der Brücke, am Übergang. Hier steht ein großes, zweieinhalb Meter hohes Kreuz. Darin sind sehr große schwarze Nägel geschlagen. An jedem davon hängt der Name einer Frau, die hier in der Stadt ermordet wurde. Die schwarze Farbe des Kreuzes und der rosa Hintergrund finden sich an fast jeder Straßenecke der Stadt wieder. Es ist die Forderung nach Gerechtigkeit, es ist auch Protest, wir wollen gehört werden. Aber es gibt keine Gerechtigkeit."

"Femizid" - der Begriff kommt aus Ciudad Juárez

Das Kreuz steht an einer von vier Brücken, die in Ciudad Juárez den Grenzfluss Rio Bravo überqueren und den Weg frei machen in die USA – für diejenigen, die Papiere haben. Gegenüber liegen Texas und die Schwesterstadt El Paso. Ciudad Juárez ist international bekannt geworden, als brutale Serienmorde an Frauen die Stadt erschütterten. Der Begriff "Femizid" tauchte hier erstmals auf und wurde im Jahr 2012 sogar ins Strafgesetzbuch Mexikos aufgenommen. Aber aufgeklärt ist trotzdem kaum eines der Verbrechen.
Deshalb protestiert Liz Nuñez. Sie ist 21, Studentin und Aktivistin. Liz setzt sich aufs Fahrrad und fährt zu einem Wandgemälde der jungen Künstlerin Isabella Cabanillas – auf einer Mauer an einer der viel befahrenen Hauptstraßen im Zentrum dieser hektischen Stadt.
"Das ist das Wandgemälde von Isa. Sie hat es, glaube ich, zwei Wochen, bevor sie sie umgebracht haben, gemalt. Es hat viele Augen, aber das zentrale Gesicht hat keine Augen. Mir macht es Angst. Aber es ist hier an dieser Hauptstraße und mitten im Zentrum sehr bedeutend. Und es macht Mut, es sagt dir, die Straßen gehören uns und wir werden sie uns nehmen."
Der Terror hält bis heute in Ciudad Juárez an, auch wenn die Gewalt weniger geworden ist. Der Begriff "Femizid" versucht den Frauenhass zu erfassen, der hinter all den Gewaltverbrechen steht. Frauenmorde gibt es in allen Gesellschaftsschichten und Täter kann jeder sein: der Ex-Partner, der Stiefvater, der Nachbar. Ciudad Juárez ist ein trauriges Beispiel dafür. Liz hat ambivalente Gefühle zu ihrer Stadt.
"Ich mag die Stadt. Ich bin aber auch zornig und wütend, nicht nur wegen Isabel, sondern wegen aller getöteten Frauen."
In Ciudad Juárez ist die Geschichte der Frauenmorde eng mit der Geschichte der Drogenkartelle verbunden. Das Juárez-Kartell begann in den 90ern damit, Frauen systematisch zu entführen, sie brutal zu vergewaltigen und zu ermorden. Alle Opfer waren junge Maquila-Arbeiterinnen. Zugezogene Migrantinnen, abgefangen auf dem Weg zur Arbeit. Frauen, die keine Lobby haben. Familien, die sich keine teuren Anwälte leisten können. Opfer, die nie Gerechtigkeit erfahren.
Heute wehren sich Frauen laut und öffentlich gegen Femizide. Das ist nicht ungefährlich, denn in der Grenzstadt herrscht nach wie vor das Gesetz des Stärkeren. Das der Männer.

Industriearbeiterinnen fürs Fließband

In der geschäftigen Fußgängerzone der Altstadt, unweit der Kathedrale, suchen Händler und Straßenkünstler ihr Glück. Dort hat die Stadtverwaltung rote Schilder aufgestellt. Alto! – Stopp! steht darauf, wie auf einem Verkehrsschild. Aber gemeint sind nicht die Autos, sondern die Männer. Stoppt die Gewalt gegen Frauen!
Ciudad Juárez ist aktuell die Stadt mit der zweithöchsten Mordrate Mexikos. Die Zwillingsstadt El Paso in Texas hingegen gilt als eine der sichersten Städte der USA. Die Gegensätze könnten nicht größer sein, aber dennoch ist das Leben in beiden Städte nicht voneinander zu trennen. Vor der Pandemie überquerten die Menschen täglich die Grenze in beide Richtungen. Viele arbeiten, leben, lieben, studieren, wohnen auf dieser oder jener Seite der Grenze.
"Es ist eine durchlässige Grenze, deren Regeln nicht wirklich respektiert werden, weil sie aus Washington und weil sie aus Zentralmexiko kommen. Vor Ort werden eigene Regeln aufgestellt, mit der Grenze umzugehen."
In einer Fußgängerzone in Ciudad Juárez steht ein rotes Stoppschild mit der Aufschrift "Alto Violencia contra mujeres" - Stoppt die Gewalt gegen Frauen
Schilder der Stadtverwaltung fordern ein Ende der Gewalt gegen Frauen.© Erika Harzer
Leobardo Alvarado lebt in Ciudad Juárez. Er ist Mitte 40 und arbeitet als Journalist. Wie die Mehrheit seiner Nachbarn ist auch er irgendwann in die schnell wachsende Industriemetropole an der Grenze gezogen, auf der Suche nach Bildungschancen, nach einem guten Arbeitsplatz.
Seit der Coronakrise dürfen nur American Citizens und Personen mit Arbeitsvisum in die USA einreisen. Viele Familien, die auf beiden Seiten der Grenze leben, sind seither getrennt, weil die Angehörigen auf mexikanischer Seite nur über Besuchsvisa verfügen. Doch was für Menschen gilt, gilt nicht für Waren. Nach wie vor stauen sich die Laster vor der Grenzbrücke Santa Fe, die die Produkte aus den Billiglohnfabriken aus Ciudad Juarez auf den US-Markt transportieren.

75 Euro Wochenlohn plus Krankenversicherung

Cinthia Mora ist 30 Jahre alt und Mutter von drei Töchtern. Seit 10 Jahren arbeitet sie in der Maquilaindustrie:
"Ich arbeite bei Strattec, México. Da stellen wir Einzelteile für Autos her – wie Schlüssel, Tür- und Kofferraumverriegelungen als Chip."
Wenn sie zur Schicht geht, passt ihr Ex-Partner auf die Kinder auf und umgekehrt. Sie verdient umgerechnet 75 Euro die Woche und hat eine Krankenversicherung.
"An meinem Arbeitsplatz setze ich neun Einzelteile zusammen. Das erfordert sehr viel Feingefühl. Denn es ist sehr wichtig, sogar lebenswichtig. Wenn in einem Notfall die Autotür nicht aufgeht, wie kommst du da raus? Meine Schicht beginnt um vier Uhr nachmittags. Meine Hände müssen schnell sein, müssen 1400 Teile am Tag zusammensetzen. Um halb sechs gibt es essen, bis sechs. Dann haben wir um sieben 10 Minuten Pause, um aufs Klo zu gehen oder Wasser zu trinken. Um halb neun gibt es Abendessen. Sie geben uns 20 Minuten Zeit. Und um 10 Uhr ist die letzte Pause. Dann arbeite ich weiter bis halb eins, dann hört die Schicht auf. Es ist sehr anstrengend, immer in der gleichen Haltung zu stehen."
Cinthia hatte Glück. Als die Pandemie begann, schloss das Unternehmen und zahlte die Löhne weiter. Andere Weltmarktfirmen widersetzten sich den Anweisungen der mexikanischen Regierung, machten weiter wie vorher und entwickelten sich zu Infektionszentren. In Ciudad Juárez starben viele Industriearbeiter an Covid-19. Erst nach diesen Todesfällen führten die Unternehmen Schutzmaßnahmen ein.

Angst um die Mädchen

Rund 300 Montagefabriken gibt es in Ciudad Juárez. Die ersten wurden in den 1960er-Jahren gebaut. Den großen Aufschwung gab es dann mit der 1994 gegründeten Freihandelszone NAFTA zwischen den Ländern Mexiko, USA und Kanada. In Mexiko gab es billige und qualifizierte Arbeitskräfte. Sie kamen in Scharen und Ciudad Juárez wuchs und wuchs und wuchs – so schnell wie keine andere Stadt.
Gruppenbild der Arbeiterin Cinthia Mora im roten T-Shirt mit dem Logo des FC Bayern München und ihren Kindern.
Cinthia Mora hat Angst um ihre Töchter und lässt sie kaum aus dem Haus.© Kathrin Zeiske
Auch Cinthia Moras Eltern zog es auf der Suche nach Arbeit in den Norden. Jetzt während der Pandemie ist alles schwieriger geworden. Doch Cinthia hat nicht nur Angst vor Corona. In ihrem Wohnviertel gibt auch viel Gewalt:
"Ich bin schon dreimal überfallen worden. Auf dem Weg von der Bushaltestelle bis nach Hause hatte ich schon die Pistole am Kopf. Sie haben mir meine Sachen weggenommen, aber ich kann ja nicht aufhören zu arbeiten. Jetzt renne ich, sobald ich aus dem Bus steige. Meine Töchter verlassen nie das Haus. Manchmal, wenn du auf die Straße gehst, gibt es einen Schusswechsel oder Mädchen werden entführt. Und ich habe ja nur Mädchen. Die Angst zerfrisst mich. Ich gehe nie aus, egal ob Quarantäne oder nicht. Ich habe uns ein kleines Schwimmbecken gekauft und damit sitzen wir im Hof. Ich sage niemals zu ihnen: weil es draußen gefährlich ist, sondern sage: besser ich bin mit euch dreien alleine. Sie antworten: ja, das ist besser so, Mama."
Dabei kann die Wüstenstadt an der Grenze zu den USA auf bessere Zeiten zurückblicken, erzählt Leobardo Alvarado.
"In den 40er-, 50er-Jahren waren die Städte Tijuana und Ciudad Juárez an der mexikanischen Grenze spektakulär. Hierher kamen Künstler aus den Vereinigten Staaten, aus Hollywood, aber auch aus Mexiko, um ihr Glück zu machen oder neue Karrieren zu starten, zu denen diese Stadt sie inspirierte. Es waren Leute wie Al Capone oder Marilyn Monroe und viele andere. Die Liste ist lang."

Wem gehört Ciudad Juárez?

Heute glänzen riesige weiße Fabrikhallen in der Sonne, diverse Fast-Food-Ketten aus den USA säumen die mehrspurigen Straßen, die durch die Stadt führen.
In den Wohnvierteln im Westen und Süden der Stadt, zur Wüste hin, sind hingegen viele Straßen unbefestigt. Die Vorgärten sind mit Paletten und alten Federrosten von Matratzen eingezäunt. In der einst lebendigen Innenstadt stehen Häuser leer, viele Gebäude sind zerfallen. Das sind die Spuren der blutigen Gewalt in Ciudad Juárez, die der sogenannte Drogenkrieg hinterlassen hat. Das Zentrum liegt nachts verlassen da, verwandelt sich tagsüber aber in einen großen Second-Hand-Markt für Produkte aus den USA, die dort auf den Müll gewandert sind.
"Die Stadt zu begreifen, ist nicht einfach. Nach den Jahren 2008 bis 2012, in denen die mörderische Gewalt extrem hoch war, gab es dann zwischen 2012 und 2016 deutlich weniger Morde. Daraus können wir zwar schließen, dass die Gewalt abgenommen hat, aber warum das so ist, dafür haben wir keine eindeutigen Erklärungen."
Wem gehört Ciudad Juárez? Diese Machtfrage stellen bis heute die Drogenkartelle. Es geht um die Verteilung des Territoriums. Das Juárez-Kartell hielt jahrzehntelang unangefochten die Stellung in der Grenzstadt. Dann drang das Sinaloa-Kartell mit ihrem Anführer "El Chapo" in die Stadt. El Chapo konnte auf die Unterstützung der damaligen Regierung zählen. Jetzt werden die Karten neu gemischt. Während der Quarantänezeiten durch die Covid-19-Pandemie nahm die Gewalt in Mexiko zu und damit auch in Ciudad Juárez. Der internationale Lockdown zwingt die Kartelle, sich neu aufzustellen.
Doch Ciudad Juárez allein aus einer Perspektive der Gewalt zu betrachten, hält Leobardo Alvarez für falsch.
"Der meisten Menschen in der Stadt leben von der Arbeit in der Fertigungsindustrie. Die Menschen gehen jeden Tag zur Arbeit, sie kämpfen für ihre Familien, sie kämpfen mit den sozialen Problemen und gegen den Hunger. Die Gewalt spielt sich innerhalb all der Netzwerke ab, die mit dem Drogenhandel verbunden sind. Im Umfeld dieser aggressiven Gewalt werden viele unschuldige Menschen getötet, viele Menschen, die nichts damit zu tun haben. Dafür wird dann der Begriff 'Kollateralschaden' verwendet, als ob es dadurch irgendwie gerechtfertigt werden könnte."

Gestrandete aus den Karawanen warten und warten

Die vier Brücken, die das mexikanische Ciudad Juárez mit der Zwillingsstadt El Paso in Texas verbinden, sind nur scheinbar das Tor zu Welt. Die Grenze ist schwer bewacht.
In der Casa del Migrante, der Migrantenherberge der katholischen Kirche warten manche Geflüchtete schon seit Ende 2018 darauf, in die USA zu kommen. Damals machten sich verzweifelte Menschen aus Mittelamerika in einer Karawane auf den Weg in den Norden und strandeten an der Grenze, zum Beispiel in Ciudad Juárez. Denn Donald Trump ordnete damals an, dass alle Asylsuchenden ihre Anträge in Mexiko stellen müssen.
Schon Anfang 2019 warnte Padre Javier Calvillo, Leiter der Herberge, vor einer tickenden Zeitbombe. "Hier treffen sich die Geflüchteten aus dem Süden mit denen, die innerhalb Mexikos vertrieben wurden. Dazu kommen viermal die Woche Menschen, die aus den USA abgeschoben wurden. Jetzt sollen wir auch noch die mehr als 10.000 Asylsuchenden aufnehmen. Wie soll das gehen? Es wird eine humanitäre Krise. Dafür sind wir nicht vorbereitet."
Vor einem Zaun stehen eine junge Frau im weißen Kittel und ein älterer Mann, beide tragen Mund-Nasen-Schutz.
Die Sozialarbeiterin Rosa Mani (links) wurde aus den USA nach Ciudad Juárez abgeschoben.© Carolina Rosas Heimepel
Mit 850 Menschen ist die Herberge, die nur für 700 ausgestattet ist, seit Monaten überfüllt. Seit Beginn der Corona-Pandemie ist sie hermetisch abgeriegelt. Doch täglich kommen Menschen aus dem Süden neu in die Stadt. Darauf reagieren zivilgesellschaftliche Initiativen. Sie gründeten mit der finanziellen Unterstützung von UN-Organisationen eine Quarantänestation.

In jedem Zimmer wohnt Hoffnung

Die Sozialarbeiterin Rosa Mani wohnt im umfunktionierten Hotel Flamingo und steht dem Team der Quarantänestation vor. Sie hat lange ohne Papiere in den USA gelebt, dort gearbeitet und eine Familie gegründet. Ihre Kinder leben noch in den USA, sie selbst ging zurück nach Mexiko und konnte nicht wieder einreisen. Als sie es dennoch versuchte, wurde sie abgeschoben. Nach Ciudad Juárez. Eine Stadt, deren Namen ihr viel Angst machte.
"Denn für Frauen ist es sehr gefährlich. Aber als ich die Stadt und ihre Menschen kennenlernte, gab es etwas, in das ich mich verliebt habe. Juárez hat die liebevollsten Menschen der Welt. Trotz alldem, was diese Stadt erlitten hat, sind es Menschen, die helfen, die Ja sagen zu einer besseren Welt."
Für die in Ciudad Juárez Gestrandeten gibt es zurzeit überhaupt keine Möglichkeit, einen Antrag auf Asyl in den USA zu stellen. Wegen Corona gibt es keine Anhörungen. Rund 6000 Menschen warten auf bessere Zeiten.
"Trotzdem ist das Hotel voller Menschen, die niemals aufgehört haben zu träumen. Trotz der Pandemie herrscht in jedem Zimmer Hoffnung. Die Menschen wissen nicht, was hier passiert oder wer wir sind. Wenn sie wieder gehen, gehen sie zufrieden, mit einer neuen Perspektive. Sie haben psychologische und asylrechtliche Orientierung erhalten. Damit sie einschätzen können, ob ein Asylantrag in ihrem Fall Erfolg haben kann."
Rosa Mani schickt nach dieser Klärung die Asylsuchenden weiter in eine der Herbergen der Stadt. Dort rückt man zusammen – auch wenn Padre Javier Calvillo eigentlich schon lange keinen Platz mehr hat.
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