Claire Keegan: "Kleine Dinge wie diese"
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Abgründige Einfachheit
04:26 Minuten
Claire Keegan
Übersetzt von Hans-Christian Oeser
Kleine Dinge wie dieseSteidl, Göttingen 2022112 Seiten
18,00 Euro
Das Weihnachtsfest von Familie Furlong wird erschüttert, als eine verstörte junge Mutter auftaucht. Für die katholische Kirche musste sie zwangsarbeiten, man nahm ihr das Kind. Claire Keegan beschreibt, wozu Menschen im Guten wie im Bösen fähig sind.
Die irische Autorin Claire Keegan, geboren 1968 und in einer katholischen Bauernfamilie in der ostirischen Grafschaft Wicklow aufgewachsen, wurde zunächst bekannt mit Kurzgeschichten, die allesamt Irland zum Schauplatz haben und ihr viel Lob und etliche Preise eintrugen. Ihre Geschichten drehen sich immer um das Schicksal ganz gewöhnlicher Menschen. Sie interessiert sich dafür, wozu Menschen fähig sind, im Guten wie im Bösen.
Diese Erzählungen sind schmal, aber exquisit, dicht geschrieben und reich in der Textur, sie lassen vieles unausgesprochen, aber sie sagen viel mit wenigen Worten. Das gilt auch für die beiden langen Short Storys, die Keegan als Einzeltexte publizierte. Auf den Miniatur-Roman "Foster" (2010, deutscher Titel "Das dritte Licht", 2013) folgt nun die Novelle "Kleine Dinge wie diese", eine Weihnachtsgeschichte der besonderen Art.
Geschichte eines Jedermann
Die Geschichte spielt in der Vorweihnachtszeit 1985 in einem irischen Provinzstädtchen. Der Held Bill Furlong ist ein irischer Jedermann, der vor eine schwierige moralische Entscheidung gestellt wird. Er ist Kohlenhändler von Beruf, Mitte 40 und glücklich verheiratet mit fünf Töchtern. Er hat sein Auskommen, ist zufrieden und hält sich für einen glücklichen Mann.
Er weiß aber auch, dass er jederzeit alles verlieren kann und dass es für ihn viel schlimmer hätte kommen können. Er ist der uneheliche Sohn eines Dienstmädchens, das mit 16 schwanger wurde. Sein Vater ist unbekannt. Hätte nicht eine gutherzige reiche Witwe seine Mutter und ihn unterstützt und ihm zum Start seines Kohlenhandels verholfen, dann wäre es seiner Mutter und ihm wohl schlecht ergangen.
Gestörtes Familienidyll
Das Irland, das Claire Keegan hier beschreibt, ist ein rückständiges Land, das noch nicht in der Moderne angekommen ist. Mitte der 1980er-Jahre steckt Irland in einer Rezession, die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Menschen stehen Schlange um Sozialhilfe, die junge Generation wandert aus und sucht anderswo ihre Chance. Das Land verfügt über keine funktionierende soziale Wohlfahrt und überlässt die Fürsorge der katholischen Kirche, mit fatalen Folgen.
Die vorweihnachtliche Familien-Idylle im Hause Furlong wird jäh gestört, als der Held seine Kohlen im Nonnenkloster hoch über der Stadt ausliefert. Im Kohlenschuppen entdeckt er ein verängstigtes, durchfrorenes Mädchen, das offenbar tagelang dort eingesperrt war und klagt, die Nonnen hätten ihm ihr neugeborenes Kind weggenommen.
Über Moral und Mitmenschlichkeit
Furlong versteht nicht gleich, was hier vorgeht, aber der Vorfall öffnet ihm die Augen über die sogenannten Magdalenen-Wäschereien der katholischen Kirche. Jeder in der Stadt weiß Bescheid, was dort vor sich geht, aber niemand spricht darüber. Diese Wäschereien waren grausame Besserungsanstalten für sogenannte "gefallene Mädchen" und ledige Mütter, die dort Zwangsarbeit leisten mussten, die sie oft nicht überlebten.
Ihre Babys wurden meist an Adoptiveltern nach Übersee verkauft. Das konnte nur funktionieren, weil die katholische Kirche allmächtig und unangreifbar war und vom Staat gedeckt wurde und weil alle aus Angst und Bequemlichkeit lieber wegschauten.
Es geht der Autorin nicht darum, gegen die Kirche zu polemisieren, denn dieser Skandal ist seit Jahren bekannt und aufgearbeitet. Ihr Thema ist vielmehr die Gewissensnot ihres Helden, der mit sich kämpft, was er tun soll. Es geht in "Kleine Dinge wie diese" um ganz große Dinge – zum einen um moralischen Mut, um Mitmenschlichkeit und Erbarmen mit der Not der Schwachen, und zum anderen um die Mitschuld und Komplizenschaft der Bevölkerung und die Widerstandskräfte der Zivilgesellschaft.
Das alles wird in der täuschend treuherzigen Form einer kleinen Weihnachtserzählung verhandelt. Da erweist sich die große Kunst der Erzählerin Claire Keegan, einer Meisterin der abgründigen Einfachheit.