Claude Lanzmann: "Das Grab des göttlichen Tauchers"

Experte für das Unbenennbare

Der französische Regisseur Claude Lanzmann bei den 39. César Film Awards 2014
Der französische Regisseur Claude Lanzmann bei den 39. César Film Awards 2014 © imago/PanoramiC
Von Ingo Arend |
Weltberühmt wurde Claude Lanzmann mit seinem Film "Shoah". Zeit seines Lebens arbeitete er allerdings auch als Journalist. Nun erscheinen von ihm gesammelte Reportagen, Erzählungen und Porträts.
"Das Unbenennbare benennen!", mit dieser Formel hat Claude Lanzmann einmal das Motiv seines legendären Films "Shoah" erklärt. Ohne ein einziges Archivbild, nur durch die Schilderungen von Zeitzeugen, evozierte der französische Regisseur ein Bild des größten Verbrechens der Menschheitsgeschichte. Mit seinem 1985 uraufgeführten Werk hat Lanzmann Film- und Erinnerungsgeschichte geschrieben.
Wer in den Texten des Künstlers nach dieser dialektischen Ästhetik sucht, dürfte eher enttäuscht werden. Die Sammlung von 53 Artikeln, Porträts und Essays der letzten 60 Jahre, die der Verlag zum 90. Geburtstag des 1925 geborenen Lanzmann veröffentlicht hat, zeigen aber einen sprachmächtigen Autor.
Wenn er 1958 für Jean-Paul Sartres Zeitschrift "Les Temps Modernes" den Prozess gegen den lothringischen Priester, Frauenverführer und Kindesmörder Guy Desnoyers beschreibt, verlässt er sich freilich nicht auf die "Blindheit", mit der er beim Holocaust glaubte, "klarsehen zu können".
Jean-Paul Belmondo war für Lanzmann wie ein "brüderliches Tier"
In seinem "Brotberuf" als Journalist arbeitete Lanzmann mit einer besonderen Mischung aus Empathie und Distanz, egal ob er die iranische Ex-Kaiserin Soraya oder den Pantomimen Marcel Marceau porträtierte. Den Schauspieler Jean-Paul Belmondo charakterisierte er einmal mit der Wendung, er agiere wie ein "brüderliches Tier".
"Chronist des zwanzigsten Jahrhunderts", als den der Verlag den Autor preist, ist Lanzmann zwar nicht. Dafür drehen sich die Texte zu sehr um ein Frankreich, das weit zurückliegt. "Jung und ohne Falten", wie Lanzmann seine Arbeiten selbst nennt, sind sie vor allem da, wo sie an heute noch virulente Widersprüche rühren.
Eindringlich erinnern die Aufsätze, in denen er die Hatz des Pariser Polizeichef Papon auf algerische Freiheitskämpfer oder deren Hungerstreik in französischen Gefängnissen beschreibt, an den französischen Staatsterrorismus zu Beginn der sechziger Jahre.
Lanzmann war stets Linker und Antimilitarist. Das zeigt sich, wenn er in einer Auftragsreportage über das Grab von Pharao Tutanchamun über die Religion der Reichen und der Armen reflektiert oder gegen den Nato-Einsatz in Bosnien zu Felde zieht. Sein intellektueller Glutkern lodert aber in den Reflexionen zum Holocaust, Anklagen gegen vermutete Antisemiten oder der Verteidigung Israels.
Ein eher heterogenes Konvolut
Verglichen mit seinen furiosen, 2009 erschienenen Erinnerungen "Der patagonische Hase" ist "Das Grab des Göttlichen Tauchers" ein eher heterogenes Konvolut. Doch wenn er in einem Essay den Holocaust als "versteckte Neigung der abendländischen Zivilisation" deutet, erreicht sein Schreiben das Formvollendete, das er an dem Taucher bewundert, der auf einem antiken Mosaik im italienischen Paestum zu sehen ist.
Dass das titelgebende Bild auch eine Allegorie für den Übergang des Lebens zum Tode ist, dürfte den betagten Autor eher gereizt als abgeschreckt haben – Experte für das Unbenennbare, der er ist.

Claude Lanzmann: Das Grab des göttlichen Tauchers
Ausgewählte Texte
Aus dem Französischen von Erich Wolfgang Skwara
Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2015
544 Seiten, 26,95 Euro

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