Claudia Hammond: "Tick, tack – Wie unser Zeitgefühl im Kopf entsteht"
Aus dem Englischen übersetzt von Dieter Fuchs
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2019
364 Seiten, 22 Euro
Wenn Sekunden wie eine Ewigkeit wirken
06:17 Minuten
Manchmal rast die Zeit, manchmal vergeht sie nur schleppend - aber warum ist das so? Claudia Hammond erklärt, wie das Gehirn ein Gefühl dafür entwickelt, die Zeit zu messen. Das ist nicht nur hochinteressant, sondern auch unterhaltsam geschrieben.
In ihrem neuen Buch "Tick, tack – Wie unser Zeitgefühl im Kopf entsteht" greift die preisgekrönte Sachbuchautorin Claudia Hammond mit beiden Händen in eine erzählerische Wunderkiste und zieht Seite um Seite hochinteressante biologische Fakten, erstaunliche Experimente und witzige Fußnoten der Forschung daraus hervor.
Thema sind die verschiedensten Illusionen über die Zeit und die Frage, wie das Gehirn es eigentlich anstellt, ohne Uhr die Zeit zu messen. Es geht um die engen Verbindungen zwischen Raumerleben, Sprache und Zeiterfahrung und die leidige Frage, warum die Zeit mit dem Älterwerden scheinbar zu rasen beginnt. All das verpackt Claudia Hammond in einen legeren, gut lesbaren Stil und ist dabei um Spannungsaufbau und Humor nie verlegen.
Waghalsige Experimente
In diesem Buch liest man von Experimenten, in deren Verlauf Menschen von Hochhauskanten geschubst wurden, um sie in Todesangst zu versetzen und ihr Zeiterleben dabei zu erkunden. Man lernt einen Extremsportler kennen, der sich mit einer Art Gleitschirm in fast 2.000 Meter Höhe schraubte, wo er unplanmäßig vornüber kippte. Seine Flugkonstruktion zerriss und der arme Mann raste wie ein Stein mit 200 Stundenkilometern der Erde entgegen, ohne jede Vorrichtung, die das hätte aufhalten können. Doch die wenigen Sekunden bis zum Aufprall zogen sich in seiner Wahrnehmung extrem in die Länge und schienen ihm alle Zeit der Welt zu geben, an seiner Lage etwas zu verändern.
Was dann passierte, erzählt die Autorin erst einige Kapitel später – das ist dramaturgisches Talent.
Steckenbleiben in ewiger Gegenwart
Wie das Gehirn die Zeit misst, wird in der Forschung bis heute diskutiert, so die Autorin. Einer These zufolge beruht unser Gefühl für eine bestimmte Zeitdauer auf dem Ausmaß der neuronalen Energie, die wir in dieser Spanne aufbringen. Eine andere geht davon aus, dass das Gehirn die Frequenz seiner eigenen elektrischen Oszillationen ermittelt.
Klar ist, dass das Dopamin-System an Zeitmessungen beteiligt ist und Kleinhirn, Basalganglien, Frontallappen und Inselcortex eine wichtige Rolle spielen. Fallen diese Gehirnteile aus, können Menschen in einer ewigen Gegenwart steckenbleiben oder sie begeben sich zur Arbeit und packen eine Stunde später müde ihre Tasche, um heimzugehen – in dem sicheren Gefühl, einen langen vollen Arbeitstag hinter sich zu haben. Störungen im Zeiterleben können die Symptome einer ganzen Reihe von Krankheiten, von Schizophrenie bis ADHS, plausibel erklären.
Im letzten Teil ihres fulminanten Info-Feuerwerks gibt die Autorin praktische Tipps für alle, die wissen möchten, wie sich die galoppierende Zeit aufhalten oder die lahme Zeitmühle des Lebens beschleunigen lässt. Auch bei übertriebenen Zukunftssorgen oder der Schwierigkeit, tausend Aufgaben in ein winziges Zeitfenster zu packen, weiß sie Rat. Am Ende mahnt Claudia Hammond aber auch zur Gelassenheit: Physiker wissen nicht einmal sicher, ob es außerhalb unseres subjektiven Erlebens überhaupt so etwas wie einen objektiven Zeitfluss gibt. Die Zeit wird immer eine geheimnisvolle Dimension bleiben – letztlich unkontrollierbar.