Claudia Keller: "Lilli und Estrongo Nachama. Zwei Solisten – ein Paar". Jüdische Miniaturen, Hentrich und Hentrich, 2018, 80 Seiten, 8,90 Euro
Der Sänger von Auschwitz
Seine Stimme rettete ihm in Auschwitz das Leben, davon war Estrongo Nachama überzeugt. In dem Buch "Lilli und Estrongo Nachama" erinnert Claudia Keller an den bekannten, vielfach geehrten Berliner Kantor und seine Frau.
Er sprach den Toten das Kaddisch, hielt wöchentliche Schabbatgottesdienste und besuchte regelmäßig die Jubilare. Über 50 Jahre war Estrongo Nachama Kantor und Oberkantor der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Er war so etwas wie die gute Seele der jüdischen Gemeinde, sagt seine Biografin Claudia Keller.
"Sein Gesang war nur die eine Seite, das andere war, dass er sich rührend um die Gemeindemitglieder gekümmert hat. Er hat die Kranken im Krankenhaus besucht. Wer nicht mehr aus dem Haus kam, den hat er zu Hause besucht. Dieses Kantor-Sein, die Seelsorge war ihm wirklich ein Herzensanliegen und eine Berufung."
Die Journalistin Claudia Keller hat in Archiven geforscht und mit Zeitzeugen gesprochen, auf Bitten des Stiefsohnes von Estrongo Nachama, Andreas Nachama. Um den Eltern nach ihrem Tod ein kleines literarisches Denkmal zu setzen. Denn Estrongo Nachama war manchmal auch ein komplizierter Mensch – etwa, wenn er Konkurrenz auf der Bühne witterte.
"Es war auch nicht möglich, ein Konzert mit Estrongo plus noch einem anderen Kantor, der so gut war wie er, zu organisieren. Da hat er sehr drauf geachtet, dass er die Nummer Eins bleibt."
Dass er mal Kantor in Berlin werden würde, war ihm alles andere als in die Wiege gelegt. Im Mai 1918 wird Nachama in Saloniki in Griechenland geboren. Seine Eltern sprechen mit ihm Ladino – Spanisch mit hebräischen Einsprengseln. Griechisch ist bei den Nachamas nur Zweitsprache. Deutsch hat Estrongo nie richtig gelernt. Seine Berufung zum Vorbeter in der Gemeinde hat er im Grunde seiner Familie zu verdanken.
Sein Talent rettet ihm das Leben
"Ich habe eine ängstliche Mutter gehabt. Du wirst nicht Soldat. Aber ich muss Soldat werden. Nein, damals gab es ein Gesetz in Griechenland, dass Kantoren und Rabbiner nicht Soldaten werden. Und ich musste sieben Jahre in die fromme Schule, um Kantor zu werden. Aber leider, als ich zur Musterung kam mit 19 Jahren, sagte mir der Offizier, Kiri Nahama: Herr Nachama, das Gesetz ist aufgehoben, und du musst als Soldat nach Hause kommen, eingezogen."
Das erzählt Estrongo Nachama 1998 anlässlich seines 80. Geburtstages. Die Nazis besetzen Griechenland. Der junge Nachama wird 1943 nach Auschwitz deportiert und an der Rampe selektiert, für den Arbeitsdienst.
"Wenn wir in Auschwitz waren, im Lager abends auf dem Appellplatz musste ich viel singen. Und ich wurde genannt: der Sänger von Auschwitz. Gott sei dank, ich habe viel gesungen, dort im Lager. Ich konnte organisieren ein bisschen Suppe, Brot von dem Lagerältesten, von den Kapos. Abends: Sänger, was machst du heute Abend? – Gar nichts. – Komm zu mir singen: italienische Lieder, Mama, vergiss mein nicht, Sorento, neapolitanische Lieder."
Sein musikalisches Talent rettet ihm das Leben. Die Rote Armee rückt vor, die Häftlinge werden nach Westen verlagert.
"Kein Mensch kannte Sänger aus Auschwitz. Immer, wenn ich gesungen habe, sagten sie: Halt die Fresse, haben sie immer gesagt."
Eine vollkommen neue musikalische Tradition
Estrongo Nachama überlebt den letzten Todesmarsch von Sachsenhausen in Richtung Westen. Bei Kyritz in Brandenburg dann die Befreiung. Er will wieder zurück in seine griechische Heimat, doch Estrongo wird krank, hat Typhus, muss ein halbes Jahr ins Krankenhaus. Bald erfährt er: Die Nazis haben seine gesamte Familie umgebracht. Jetzt will Estrongo Nachama in Berlin bleiben, denn er wird hier dringend gebraucht. Der Gemeindevorsitzende Heinz Galinski will ihn zum Bleiben überreden.
"Und ich habe angefangen, hier in Berlin am 1. Juli 1947 als Kantor in der Pestalozzistraße. Das ist meine Synagoge."
Im Gottesdienst in der Berliner Synagoge Pestalozzistraße wird nach der aschkenasischen Tradition gefeiert, der Tradition der deutschen und der slawischen Juden, mit Melodien des Berliner Synagogenkomponisten Louis Lewandowski, ein Romantiker.
Nachama muss sich als sephardisch geprägter Jude in eine völlig andere musikalische Tradition einfinden und lernen, sich beim Vorbeten mit dem Chor aus Frauen und Männerstimmen nebst Orgel abzustimmen. Ein Instrument, das er bis dahin in der Synagoge nicht kannte.
Keine Liebe auf den ersten Blick
Er übt Tag und Nacht. In der Gemeinde sieht er auch zum ersten Mal Lilli Schlochauer. Die Schlochauers gehörten zur feinen Gesellschaft Berlins. Textilfabrikanten. Tochter Lilli muss unter den Nazis Zwangsarbeit bei Siemens leisten. Nur knapp entgeht sie der Deportation, versteckt sich, färbt ihre Haare blond, gibt sich als treuarische Luftwaffenhelferin aus. Dann gerät sie plötzlich in eine Passkontrolle. Claudia Keller:
"Und dann herrschte sie den Kontrolleur nur an, das ginge ihn ja nun überhaupt nichts an und sie sei hier in einem Spezialauftrag des Führers und sie wolle jetzt mal wissen, wer sein Vorgesetzter sei und sich seine Dienstnummer notieren. Ja so eine Chuzpe. Das hat sie so überzeugend rübergebracht in ihrer Todesangst, dass der Mann verängstigt war und sich verzogen hat und auch keine weiteren Fragen mehr stellen mochte."
Nach der Shoa sehen sich Lili und Estrongo gelegentlich in der Gemeinde. Es ist keine Liebe auf den ersten Blick. Mit zunehmender Prominenz wird der griechische Sänger Estrongo auch für die großbürgerliche Tochter Lilli interessant. Sie bringt aus vorheriger Ehe Sohn Andreas mit. Die Beziehung zwischen Estrongo und Lili ist spannungsreich.
"Estrongo Nachama hatte wohl sehr viele Affären, was für Lilli, ja manchmal hat sie das stoisch ertragen, aber immer wieder auch gekränkt. Vielleicht war sie auch froh, wenn sie davon gar nicht so viel mitkriegte."
Denn beide Ehepartner wohnen bis zuletzt in getrennten Wohnungen.
"Herr Nachama, werden Sie deutsch"
Schnell wird Estrongo Nachama bekannt. Beim Rias, dem Radio im amerikanischen Sektor und Vorgänger von Deutschlandfunk Kultur, gestaltet er jeden Freitag die Schabbatfeier. Er tritt im Fernsehen und in Filmen auf, singt sogar in christlichen Kirchen.
Und er fährt oft nach Ost-Berlin. Hält Gottesdienst in der Synagoge Rykestraße oder singt bei Beerdigungen auf dem jüdischen Friedhof Weißensee. Die Mauer – für ihn kein Problem. Er hat einen griechischen Pass und eine offizielle Arbeitserlaubnis für Ostberlin und kann mit seinem Auto ungehindert die Grenze passieren.
Ein Deutscher ist Estrongo Nachama aber nie geworden, wie er noch zwei Jahre vor seinem Tod selber sagte.
"Alle Bürgermeister bis jetzt: Herr Nachama, werden Sie deutsch. Sie kriegen einen wunderbaren Pass, deutschen Pass. Meine Eltern sind umgekommen in Auschwitz, meine Geschwister auch. Soll ich Deutscher werden? Nein, ich bleibe Grieche."