Bürgerbeteiligung in Zeiten des Populismus
Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie fordert eine neue vierte Gewalt: "Die Konsultative" – so lautet auch der Titel des Buches, das er gemeinsam mit Patrizia Nanz verfasst hat. Auf der Leipziger Buchmesse hat er es vorgestellt.
Deutschlandradio Kultur: Tacheles heute mit Christian Rabhansl, von der Leipziger Buchmesse und mit einer These, die ich folgendermaßen zuspitzen will:
Es steht nicht gut um die Demokratie. Die Verachtung für die Parlamente rechts wie links kippt allmählich in offene Verachtung, in Feindseligkeit. Es ist die Stunde der Populisten. Und im Grunde herrschen sowieso die Konzerne. – So lautet, etwas zugespitzt wie gesagt, das Klagelied der Postdemokratie, in der wir angeblich leben.
Wir haben jetzt in Tacheles einen Gast, der dieser Demokratie neues Leben einhauchen will. In seinem Plan spielt ausgerechnet eine Tombola eine entscheidende Rolle. Was wir bei der gewinnen sollen und wie das denn eigentlich klappen soll, die Demokratie mit einer Verlosung zu retten, darüber sprechen wir jetzt mit dem Politikwissenschaftler und Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen Claus Leggewie. – Schön, dass Sie zu uns gekommen sind.
Claus Leggewie: Schönen guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gemeinsam mit der Bremer Politikwissenschaftlerin Patrizia Nanz ein Buch geschrieben zur Demokratisierung der Demokratie, wenn ich so sagen darf. Bevor wir zu dieser Tombola kommen, die da drin eine wichtige Rolle spielt: Was hat Sie angetrieben? Teilen Sie diese pessimistische Gegenwartsbeschreibung, die ich gerade zugespitzt habe?
"Die Demokratie ist in einer Legitimationskrise"
Claus Leggewie: Ja, die ist ja nicht von der Hand zu weisen. Die Demokratie ist in einer Legitimationskrise. Sie wird mehr und mehr bezweifelt. Es gibt offene Auseinandersetzungen nicht nur mit dem Personal, das uns regiert, sondern auch mit der Regierungsform, in der wir sind. Es gibt Leute, die allen Ernstes gegen diese Demokratie, wie wir sie praktizieren, zum Widerstand auffordern. Insofern ist das eine ernste Lage, in der wir sind. Aber das ist ja genau der Grund, warum man ein solches Buch machen muss, warum man einen Beitrag leisten muss, warum wir alle einen Beitrag leisten müssen für die Demokratisierung der Demokratie.
Demokratie ist nix, was einmal uns gegeben wurde, und das ist dann unsere Lebensversicherung. Also, 1949 wurde das eingeführt. Seitdem sind wir uns sicher. 1989/90 wurde es ausgedehnt. Und jetzt machen wir mal immer so weiter. Die Demokratie ist etwas, was sich immer weiterentwickelt hat. Deswegen ist der Ausdruck Demokratisierung der Demokratie eigentlich kein falscher.
Deutschlandradio Kultur: Momentan sieht es eher nach einer Entfremdung aus. Wer entfremdet sich da von wem? Das Parlament von der Bevölkerung oder umgekehrt?
Claus Leggewie: Ich denke, da sind beide dran beteiligt. Es ist so, dass vieles, was im Parlament läuft, gar nicht mehr diskutiert wird. Das heißt, wir leben sehr stark unter der Herrschaft von Sachzwängen. Es wird oft gesagt, die Politik, die wir machen müssen, ist alternativlos. Also, in der Finanzkrise, Sie erinnern sich, haben sich Angela Merkel und der damalige Finanzminister Steinbrück hingestellt und haben gesagt, "wir klären das und wir machen das für euch. Macht euch keine Sorgen, eure Konten sind sicher." – Wie wir alle wissen, war das ganz so sicher nicht. Und wir leben ganz häufig unter dem Eindruck, dass Politik eigentlich gar keine Wahl mehr hat. Das ist die Stunde der Populisten, die dann sagen: "Ja, wenn sowieso keine Wahl ist, dann brauchen wir" – das ist ein alter nationalsozialistischer Terminus – "die Quatschbude namens Parlament" nicht mehr. Das ist das eine.
Das andere ist, dass sich eine politische Entfremdung eingestellt hat in den letzten 20, 30 Jahren nicht nur in Deutschland, in Deutschland vielleicht weniger als anderswo, die damit zu tun hat, dass auch viele Leute mit der Demokratie als Herrschafts- und Lebensform nicht mehr übereinstimmen. Sie wollen eine klare Führung. Sie wollen eigentlich den ganzen komplizierten Aushandlungsprozess, Kompromissbildung, das wollen die alles nicht mehr. Es gibt in Deutschland sehr viele Leute, die allen Ernstes sagen, "Putin wird's richten". Sie können das bei Pegida-Demonstrationen, aber auch bei Demonstrationen der Linken immer wieder sehen, dass da ein Schild hochgehalten wird "Putin wird's richten". Das heißt, ein Autokrat soll die Dinge klären. Putin ist ja mit Mehrheit gewählt worden in Russland. Er hat manipuliert. Er hat gefälscht. Er hat seine Propagandamedien eingesetzt, aber die Mehrheit steht hinter ihm. Und diese Form illiberaler Demokratie bricht sich Bahn. Und das hat eigentlich weniger mit den Handlungsweisen des Parlaments zu tun, als damit, dass Menschen in den letzten 20, 30 Jahren einen unglaublichen Frust angestaut haben, dass sie sich vernachlässigt fühlen.
Deutschlandradio Kultur: Das führt ja auch dazu, dass sie zufrieden sind – anfangs zumindest – mit solchen Regierungsformen. Sehen wir uns Polen an, wie sich das Land entwickelt. Sehen wir uns Ungarn an, das sich schon sehr lange so entwickelt. Sehen wir uns den amerikanischen Wahlkampf an, der auch beängstigende Züge annimmt.
Sie prägen in Ihrem Buch den Begriff der "demokratischen Betriebstemperatur": auf der einen Seite "expertokratisch ausgekühlt", nennen Sie das, und auf der anderen Seite das, was wir jetzt gerade beschrieben haben, populistisch überhitzt. – Welche Temperatur messen Sie gerade in Deutschland?
Claus Leggewie: Sagen wir mal: etwas überhöhte Temperatur im Moment. Lange Zeit war das so, dass Frau Merkel das schon irgendwie hinkriegt. Wir haben großes Vertrauen entwickelt. Ich kenne ja fast nur noch Merkelianer.
Deutschlandradio Kultur: Das liegt vielleicht an den Kreisen, in denen Sie sich bewegen ...
"Jetzt kommen die Populisten, machen Dampf"
Claus Leggewie: Nein, das Interessante ist ja, dass in den Kreisen, in denen ich mich bewege, auch Merkelianer dazu gekommen sind. Das ist ja eigentlich mehr das Interessante. Ich halte auch die Politik, die Frau Merkel in der Flüchtlingspolitik macht, für absolut richtig.
Und jetzt komme ich noch mal zu Ihrer Frage: Was ist die Betriebstemperatur? – Wir waren sehr lange unterkühlt in dem Sinne, dass das schon irgendwie läuft, dass das System funktioniert und wir als Bürgerinnen und Bürger eigentlich nicht groß uns kümmern müssen. Das heißt, wir haben uns zurückgezogen. Wir haben uns privatisiert. Wir verlassen uns auf die Funktionsfähigkeit eines Wohlfahrtsstaats und wir nehmen das wie einen Kundenservice in Anspruch. – Das war die Unterkühlung.
Jetzt kommen die Populisten, machen Dampf, machen Hitze, machen Reibungshitze. Zur Politik gehört auch Leidenschaft. Also, die Populisten haben ein wichtiges Element in die Politik zurückgebracht: Leidenschaft. Es ist nicht nur Augenmaß, wie Max Weber gesagt hat, sondern eben auch Leidenschaft.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem spült diese überhitzte demokratische Temperatur die Populisten in die Parlamente. Und jetzt kommen wir zu Ihrem Buch. Es heißt "Die Konsultative." – und mir geht's jetzt um den Untertitel – "Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung". Ausgerechnet in den Tagen des Populismus wollen Sie die Bürger, die sehr überhitzt die Populisten wählen, noch stärker beteiligen?
Claus Leggewie: Die taz hat am Montag nach den Wahlen in Sachsen-Anhalt usw. eine geniale Schlagzeile gehabt. Die hieß: "85 Prozent sind cool". In Deutschland haben vielleicht 15 Prozent im Durchschnitt AfD gewählt. Und das kann uns ja nicht deren Text aufzwingen. Gerade deswegen, weil es die gibt, muss jetzt eine Reaktion nicht nur der Linken, sondern der Gesellschaft insgesamt, der Bürgergesellschaft insgesamt kommen und sagen: Ihr seid eine kleine radikale Minderheit. Wir waren bisher die schweigende Mehrheit und wir werden uns jetzt artikulieren. Und die Demokratie ist etwas, für das wir uns einsetzen. Und dafür werden wir die Demokratie auch erweitern. Dafür werden wir mehr Demokratie machen. – Der Spruch erinnert ja an Willy Brandt: "Mehr Demokratie wagen". Das war ein wichtiger Durchbruch nach der 68er Bewegung in die Institutionen rein. Wir sprachen vom "Marsch durch die Institutionen". Aber es ist in den Institutionen geblieben.
Gleichzeitig, parallel hat sich in den 60ern und 70ern viel Beteiligung außerparlamentarisch entwickelt. Und das ist jetzt der Zusatz, vor dem wir sind. Deswegen nennen wir das "Konsultative".
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir trotzdem noch mal in der Gegenwart. Was für ein Ergebnis erwarten Sie bei mehr Bürgerbeteiligung in Orten, in denen Busse voller Flüchtlinge mit Hasstiraden begrüßt und blockiert werden?
"Um die meisten Flüchtlinge wird sich gekümmert"
Claus Leggewie: Schauen Sie, das ist genau das Problem, dass wir uns den Text von Pegida und AfD machen lassen. Das heißt, die Orte, an denen das passiert, so traurig es ist, sind nicht repräsentativ für die Lage in der Bundesrepublik Deutschland. Die meisten Flüchtlinge werden bei uns tatsächlich immer noch willkommen geheißen. Um die meisten Flüchtlinge wird sich gekümmert. Das ist die Realität unserer Gesellschaft.
Das heißt, wenn in Clausnitz, Heidenau und sonstwo was passiert, dann dürfen wir das nicht als Norm oder als das Maßgebliche für die Gesamtgesellschaft nehmen. Und gleichzeitig muss es ein Ansporn für uns sein, dass diese hässlichen Bilder, dieses "Dunkeldeutschland", wie Gauck gesagt hat, nicht uns den Schatten aufdrückt. Das heißt, wir sind ja in der Lage, selber etwas zu machen. Und das ist der Inhalt der Beteiligungsrevolution. Seit den 60er-Jahren gibt es ganz viele Möglichkeiten sich zu beteiligen. Und das haben wir nicht erfunden mit so einem Buch. Die Konsultative ist etwas wie eine vierte Gewalt, die hinzugetreten ist. Die hat sich in den letzten 20, 25, 30 Jahren massiv ausgebildet. Das müsste man jetzt stärken.
Deutschlandradio Kultur: Sie beschreiben das, wie Sie gerade sagen, als vierte Gewalt. Die soll neben die drei klassischen Gewalten treten, neben die Legislative, die Exekutive und die Judikative. Es geht also nicht einfach um mehr Volksentscheide oder dergleichen. – Was soll diese Konsultative sein? Was soll sie machen?
"Ein vernünftiger Volksentscheid ist okay"
Claus Leggewie: Um bei dem Beispiel Volksentscheide anzufangen: Es gibt Methoden der direkten Demokratie, das Volk entscheidet nicht über seine Volksvertretung, sondern direkt. Es gibt vernünftige Bürgerentscheide. Es gibt auch immer wieder problematische Bürgerentscheide gerade in den Ländern, in denen es die sehr lange gibt, wie die Schweiz. Die sind im Moment nicht gerade vorbildlich. In Kalifornien, wo ich mal gelebt habe, ist auch nicht jede proposition wirklich gut durchdacht. Und die Konsultative ist nicht etwas, was notwendigerweise in Volksentscheiden mündet.
Ich habe nix dagegen, dass die gemacht werden, wenn es eine vernünftige, handhabbare, präzise Frage gibt und nicht wie Orbán das jetzt in Ungarn macht: Wollt ihr die EU oder nicht? – Mal sehn, was dabei rauskommt. Das ist die berühmte Frage: Seid ihr für oder gegen die Todesstrafe? Sowas kann man nicht abstimmen. Seid ihr für oder gegen die Muslime? Das kann man nicht machen.
Mit anderen Worten: Ein vernünftiger Volksentscheid ist okay. Und das ist eine Ergänzung der parlamentarischen Demokratie. Aber genau dann muss die Konsultative eintreten. Wir können nicht einfach aus Daffke und aus Stimmung und aus Bauchgefühl entscheiden, sondern wir müssen wissen, worüber wir entscheiden. Wenn Sie die Frage stellen, sind Sie für oder gegen die Energiewende, was soll ich denn darauf antworten? Wenn ich aber einen konkreten Plan bekomme, wenn ich sage, die Energiewende ist etwas Ergebnisoffenes, das ist auszuhandeln, da kann man sich viele Ideen zu machen, dann haben Sie ein Wissensfundament und auch ein emotionales Fundament, um dann vielleicht abzustimmen.
Deutschlandradio Kultur: Das Beispiel finde ich sehr passend, denn es ist eine sehr wichtige Zukunftsfrage. Kriegen wir die Energiewende hin? Und wenn ja, wie? Die Mehrheit der Bevölkerung sagt: Ja, Energiewende finden wir super. Die Mehrheit der betroffenen Bürger sagt aber auch: Also, eine Stromtrasse hier bei mir will ich auf gar keinen Fall.
Jetzt schlagen Sie diese Konsultative vor. Das sind "Zukunftsräte" sagen Sie, 15 bis 20 Menschen, die da zusammensitzen. – Was würden die in diesem Fall tun? Wie sollen die das Problem lösen?
Claus Leggewie: Ein Zukunftsrat ist etwas, das sich mit Fragen der Zukunft beschäftigt, wie der Name schon sagt. Es sagt also nicht, übermorgen müssen wir etwas entscheiden. Wir setzen uns drei Tage zusammen und das ist die Zukunftsentscheidung. – Ein Zukunftsrat ist ein Gremium, das aus 15, 20 Leuten zusammengesetzt ist, die nach einem Losverfahren ausgesucht werden.
Deutschlandradio Kultur: Das ist die Tombola.
"Nix gewinnen außer demokratischer Mitwirkung"
Claus Leggewie: Das ist die Tombola. Da können Sie nix gewinnen außer Ihrer demokratischen Mitwirkung. Die können Sie da gewinnen. Und dieses Gremium ist eingesetzt vom Gemeinderat und kann zum Beispiel eine Frage in einem Stadtteil in einer großen Stadt, vielleicht auch in einem Land besprechen, zum Beispiel Zusammenhänge der Energiewende oder Zusammenhänge mit der Flüchtlingskrise, Wohnungsfragen, Stadt-Land-Verhältnis, solche Dinge sind die klassischen Zukunftsfragen, die unsere Kinder und Enkelkinder maßgeblich betreffen werden.
Das sind keine Veranstaltungen, wo man ein bisschen vor sich hin fantasiert, sondern das sind Dinge, die in die parlamentarischen und exekutiven Organe eingespeist werden. Der Magistrat muss sich mit den Ergebnissen dieses Zukunftsrats auseinandersetzen. Das gibt es bereits in verschiedenen Gemeindesatzungen.
Und wenn Sie sagen, die Leute sind für die Energiewende, aber dagegen, dass die Stromtrasse bei ihnen gebaut wird, Einspruch, euer Ehren! Wir sind nämlich keine Theoretiker. Wir haben einen Prozess durchgeführt über die Stromtrassen in Bayern, in Windischeschenbach. Für Ältere unter Ihnen, es ist in der Nähe von Wackersdorf.
Deutschlandradio Kultur: Da kennt man sich aus mit Bürgerprotest.
Claus Leggewie: ... da kennt man sich aus mit Protest. Und dort haben wir selbst mit einer Firma, die für die Verlegung dieser Stromtrassen zuständig ist, den Bürgerbeteiligungsprozess organisiert, um zu fragen: Wo kommt die Trasse jetzt hin? – Und die Bürgerinnen und Bürger waren erstens bereit, in den sauren Apfel zu beißen, die Kröte zu schlucken und zu sagen, okay, dann kommt sie halt hier hin, aber sie haben den richtigen Weg gesucht. Sie haben mitgewirkt an der besten Lösung.
Und ich glaube, dass wir die Bürgerinnen und Bürger massiv unterschätzen, dass da immer nur "not in my backyard" gesagt wird, also "nicht durch meinen Vorgarten oder Hinterhof". So sind die meisten Bürgerinnen und Bürger gar nicht. Wir müssen diese Leute, die da in Windischeschenbach gesagt haben, okay, hier ist es. Wir akzeptieren das, das kommt so ins Raumplanungsverfahren, denen müssen wir einen Preis spenden. Die haben sich verdient gemacht um die Energiewende und um die Demokratie.
Deutschlandradio Kultur: Herr Leggewie, dass wenn wir hier über Ihren Vorschlag der Konsultative sprechen, dass Sie mir dann ein Beispiel erzählen, bei dem es ganz wunderbar geklappt hat – geschenkt.
Ehrlich gesagt, wenn ich mir vorstelle, Sie wollen auslosen, dass irgendwelche 20 Bürger über wirklich wichtige Fragen entscheiden, vielleicht, wo der Atommüll vergraben wird und dergleichen, ich schätze ja meine Nachbarn und all die Menschen dieser Republik sehr, aber das finde ich einen gruseligen Gedanken. Wie soll denn da Sachverstand reinkommen?
Claus Leggewie: Weil das auch nichts mit unserem Zukunftsrat zu tun hat, was Sie gerade sagen.
Deutschlandradio Kultur: Ach?
"Ein Zukunftsrat ist kein Entscheidungsgremium"
Claus Leggewie: Erstens entscheiden die nix. Ein Zukunftsrat ist kein Entscheidungsgremium. Die Entscheidungen werden nach wie vor dort gefällt, wo sie hingehören, in Parlamente und in Magistrate. Außerdem entscheidet niemand, wo der Atommüll verbuddelt wird. Der Vorschlag, den wir in unserem Buch haben, dass auch im Blick auf die Endlagerung Zukunftsräte eingerichtet werden, hat damit zu tun, dass – wie der Baden-Württembergische Ministerpräsident sehr richtig gesagt hat –, irgendwo muss das Zeugs ja hin. Man kann ja nicht ewig Bürgerinitiativen gegen diesen und jenen Standort machen und sagen, überall sonst, nur hier nicht, und damit die Frage, die für die künftigen Generationen hochbedeutsam ist, immer weiter hinausschieben.
Wir werden einen Prozess erleben in den nächsten zehn, 15 Jahren, dass – sagen wir mal – sieben oder acht Standorte, meistens sind die aus geologischen Gründen in Süddeutschland, ausgesucht werden. Und diese Kommunen müssen sich auf das, was auf sie zukommt einrichten. Und da kann ein Zukunftsrat nicht mitentscheiden, aber er kann die Entscheidungen, die gefällt werden, sehr wohl erstens vorbereiten und zweitens dafür sorgen, dass sie eine gewisse Legitimation bekommen.
Im Moment ist die einzige Legitimation, dass die Leute sagen, Gorleben geht nicht oder geht doch. Das heißt, ein Geologe sagt, geht oder geht nicht. Damit ist doch die demokratische Frage, die damit verbunden ist, nicht gelöst. Also, insofern entscheiden gar nix, aber an der Entscheidung mitwirken, maßgeblich mitwirken.
Deutschlandradio Kultur: Beratend. Daher das Wort "die Konsultative". Claus Leggewie, Sie sind zu Gast in Tacheles direkt auf der Leipziger Buchmesse und wir sprechen über Ihr Buch "Die Konsultative: Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung". – Das ist für mich auch die Gretchenfrage an diesem Konzept. Sie sagen, die entscheiden gar nichts. Das heißt, die können ein kluges Konzept entwerfen, dass dann im schlimmsten Fall in der Schublade landet.
Wir haben das Gespräch begonnen mit der Frage, wer sich von wem entfremdet, die Bevölkerung von den Parlamenten oder umgekehrt. Wenn jetzt solche Beteiligungsverfahren etabliert würden und die Menschen würden sich wirklich kluge Gedanken machen und dann verschwindet das in den Schubladen, was ich nicht völlig abwegig finde, dann wird das doch den Frust und den Verdruss nur steigern.
Claus Leggewie: Ja, wenn es in der Schublade verschwindet, wird das passieren können.
Deutschlandradio Kultur: Warum sind Sie optimistisch, dass es nicht in der Schublade verschwindet?
Claus Leggewie: Erstens, es verschwindet in der Schublade und vorher hat ein Prozess der Erörterung von Pro und Kontra stattgefunden. Ich weiß nicht, ob jemand hier im Saal ein Schöffe ist.
Deutschlandradio Kultur: Ja. Es geht eine Hand hoch in der ersten Reihe.
"Als Schöffe sind Sie als Laie beteiligt"
Claus Leggewie: Als Schöffe sind Sie als Laie beteiligt an der Entscheidungsfindung eines Gerichts. Sie sind keine Juristin, nehme ich an, aber Sie können mit ihrem klugen Menschenverstand sagen, ich verstehe das oder ich verstehe es nicht, können Sie mir das erklären. Oder, mein Eindruck ist folgender. Und genau das ist, was man sich unter einer lebendigen Demokratie vorstellt.
Allein schon der Prozess, dass wir etwas nicht nur vorgesetzt bekommen und dann Ja oder Nein abstimmen oder sagen, interessiert mich nicht, ich bleibe zu Hause, meistens in riesigen Parteiprogrammen verborgen oder von Sachzwängen überschüttet, allein schon dadurch, dass wir uns über die Zukunftsfragen unseres Kiezes, unseres Stadtteils, unserer Stadt kümmern, entwickeln wir eine politische Wir-Identität, die überhaupt nicht zu unterschätzen ist.
Jetzt muss natürlich der Druck von unten, und ich erinnere nur an Stuttgart 21, der muss natürlich dann auch so stark sein, dass kein Magistrat, kein Rat einer Stadt sich erlauben kann zu sagen, schön, dass wir geredet haben, macht euch vom Acker, wir sind weg, wir machen sowieso, was wir wollen. Ich glaube, das funktioniert so nicht mehr. Und jetzt kommt der Clou.
Deutschlandradio Kultur: Ich muss Sie da kurz unterbrechen. Wir sind mit Deutschlandradio Kultur in Berlin. Da gab es vor ein paar Jahren das Bestreben, dass die Menschen abstimmen wollten, ob denn der Flughafen Tempelhof wirklich geschlossen wird. Der damals noch Regierende Klaus Wowerweit hat schon, bevor das alles überhaupt starten konnte, gesagt: Ist mir doch egal, was ihr abstimmt.
Noch mal die Frage: Was macht Sie so optimistisch, dass Politiker auf so was eingehen?
Claus Leggewie: Wie hieß der Mann? (Gelächter im Publikum.)
Deutschlandradio Kultur: Darüber ist er nicht gestolpert.
"Wowi war ein toller Showstar"
Claus Leggewie: Na, Wowi war ein toller Showstar, aber ob der ein guter Oberbürgermeister war, wage ich, auch noch nachträglich zu bezweifeln.
Deutschlandradio Kultur: Dann variiere ich meine Frage dahin: Was macht Sie so optimistisch, dass andere Politiker anders reagieren als er?
Claus Leggewie: Der Kampf der Bürgergesellschaft, der längst im Gange ist. Weil wir uns das nicht mehr bieten lassen. Es ist möglich, dass Sie recht haben. Es ist möglich, dass Sie recht haben, dass die Bürgergesellschaft eine komplett passive vereinzelte Masse von Leuten ist, die sich gar nicht beteiligen wollen. Dann haben Sie die Wette gegen mich gewonnen. Aber ich gehe die Wette ein. Ich habe ganz viele Veranstaltungen gemacht zu – sagen wir mal – Vorformen eines Zukunftsrates, über Bürgerbeteiligungsprozesse. Und ich sehe dort eine Energie. Ich sehe dort eine Bereitschaft zur Mitwirkung. Und ich sehe dort auch eine politische Energie, sich nicht mehr abspeisen zu lassen, ja, die sehe ich. Und die muss man jetzt natürlich auch institutionell fördern, dass man sich mal aufregt, dass man vor – keine Ahnung – Anne Will sitzt und sich wieder furchtbar aufregt über die Bundeskanzlerin oder Herrn Bosbach oder wen auch immer, das ist keine Politik. Das ist Zuschauerpolitik.
Wir brauchen eine Demokratie, an der wir mitwirken können, an der wir was zu sagen haben. Und ich bin sehr optimistisch, dass wir in Deutschland, sagen wir mal, drei, vier, fünf Prozent der Bevölkerung haben, die ich als Aktivbürger bezeichnen würde, die Lust haben, die ein Interesse haben, die auch Power haben, sich zu beteiligen. Und genau die sind jetzt gesucht.
Diese Zukunftsräte entstehen nicht, weil Frau Prof. Nanz und Herr Prof. Leggewie einen Zukunftsrat empfehlen, sondern weil etwas in der Luft liegt, auch jetzt gerade animiert durch AfD, durch Populismus. Wir müssen jetzt auch mal was auf die Beine stellen, das erlebe ich täglich.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben diese Ideen, noch bevor sie jetzt gedruckt zu lesen sind, schon mit dem Bundestagspräsidenten diskutiert. Ich glaube auch, er hat das Buch sogar vorgestellt. Das heißt, er scheint da ein gewisses Faible für zu haben. Das läuft aber schon so ein bisschen auch auf Entmachtung von Parlamenten hinaus. – Wie hat er reagiert?
"Ein Konflikt ist immer gut für die Demokratie"
Claus Leggewie: Ja, sagen wir mal, gemischt. Er gehört zu den Politikern in Deutschland, die mehr und mehr werden, die sagen: Eigentlich ist Bürgerbeteiligung eine gute Sache. Es ist keine Konkurrenz, finden wir gut, stärkt unsere Legitimation. Parlamente sind auch besser legitimiert, wenn die Bürgerinnen und Bürger sich vorher außerparlamentarisch beteiligt haben. Da gibt es viele Politiker mittlerweile, die dem zustimmen würden. Und ich halte das auch für richtig.
Ich glaube, dass Politikerinnen und Politiker gerade in so Infrastrukturprojekten wie der Energiewende oder in der Flüchtlingsfrage sehr darauf angewiesen sind, mit den Bürgerinnen und Bürgern unmittelbar zusammenzuarbeiten, damit ihre Entscheidungen mehr Legitimation bekommen. Und so ist Lammert. Lammert ist so gesehen ein Vorbild. Er hat aber gleichzeitig gesagt: Also, wenn ihr richtig gut seid mit dieser Konsultative, dann ist das eine Konkurrenz und dann bin ich eigentlich nicht dafür. Wenn ihr aber schlecht seid, dann brauchen wir euch gar nicht. – Und das ist ein völlig falscher Ansatz.
Es geht nicht da drum, dass die Konsultative die Legislative irgendwie ausbremst, sich feindlich zu ihr stellt, Opposition macht. Das kann auch mal sein. Ein Konflikt ist immer gut für die Demokratie. Aber im Grunde genommen sind das Gewaltenteilungen. Das heißt, da verschränkt sich was. Da arbeitet etwas zusammen. Und ein klug beratener Politiker sieht das überhaupt nicht als Konkurrenz, sondern als ein Mittel, um die Politik, die demokratische Politik weiterzuentwickeln. Aber da kommt er auch noch drauf.
Deutschlandradio Kultur: Vielleicht komme auch ich noch drauf. Denn ich muss sagen, das war schon auch der Punkt, an dem ich mir beim Lesen Ihres Buches nicht ganz sicher war, ob ich völlig verstehe, wie Sie es meinen. Sie betonen an vielen Stellen: Sie reden nicht davon, dass Sie die bisherige Gewaltenteilung irgendwie auflösen wollten oder irgendwie Parlamente entmachten wollten, auch wenn ich das vorhin behauptet habe.
Gleichzeitig reden Sie aber immer davon oder schreiben davon, dass die Ergebnisse dieser Zukunftsräte wirklich verbindlich sein sollen. – Wie lösen Sie denn dieses Dilemma?
Claus Leggewie: Verbindlich nicht in dem Sinne, dass die Entscheidung eines Zukunftsrats dann umgesetzt wird. Ich habe gesagt, da sind die Parlamente vor. Und ich möchte an dieser Gewaltenteilung überhaupt nix ändern.
Deutschlandradio Kultur: Worin besteht dann die Verbindlichkeit?
"Das ist keine Wünsch-dir-was-Veranstaltung"
Claus Leggewie: Die Verbindlichkeit besteht darin, dass sich Gremien wie ein Parlament, ein Magistrat einer Stadt, ein Bundestag, wenn Sie so wollen die Europäische Kommission nicht einfach drüber wegsetzen kann. Sie muss das behandeln. Das bedeutet so was Ähnliches wie ein aufschiebendes Veto. Das heißt, eine Entscheidung über eine wichtige Infrastruktur, zum Beispiel ein Mobilitätskonzept einer Stadt wie Essen, die ist jetzt grüne Hauptstadt 2017, aber hat ein Mobilitätsverhalten, das unter aller Kanone ist. Und jetzt muss natürlich diese Stadt auch wirklich zur grünen Hauptstadt werden, ihr Versprechen erfüllen. Dazu braucht sie ein Konzept über eine andere Mobilitätspolitik, eine andere Verkehrspolitik, die nicht auf individueller Automobilität beruht – ein hartes Ding im Ruhrgebiet, eine harte Sache.
Und an der Stelle ist sie drauf angewiesen, dass sie mit den Bürgerinnen und Bürgern ein gemeinsames Konzept entwickelt. Und der Rat der Stadt, wenn es dann einen Zukunftsrat gibt, der kann nicht einfach sagen, unser Mobilitätskonzept ist das Folgende, wenn er nicht die Vorschläge, die ein Zukunftsrat macht, entsprechend gewürdigt, berücksichtigt hat, und zwar Punkt für Punkt. – Nicht: Wir haben die Vorlage 1217 diskutiert, danke, auf Wiedersehen, sondern: Darin sind zehn Vorschläge gemacht, und zu diesen zehn Vorschlägen verhalten wir uns so und so. Haben wir Finanzierungsvorbehalte? Okay, dann müssen die geklärt werden. Da muss sich auch ein Zukunftsrat zu verhalten. Das ist keine Wünsch-dir-was-Veranstaltung. Es ist aber die Politik auch keine Veranstaltung mehr: So wird's gemacht, basta! – Das ist die Entwicklung, um die es jetzt geht.
Deutschlandradio Kultur: Das wäre dann Politik Hand in Hand. Und ich denke schon, dass ich verstehe, warum das vielleicht helfen könnte, die Entfremdung zwischen Parlamenten und Bevölkerung, über die wir zu Beginn gesprochen haben, ein bisschen zu beheben und vielleicht auch tatsächlich Populismus zu bekämpfen.
Gleichzeitig ist doch der Haken: Dazu müssten eigentlich auch Menschen sich in diesen Räten engagieren, die sich entfremdet fühlen. – Wie wollen Sie die denn da reinbringen?
"Es gibt nämlich grob gesprochen zwei Beteiligungsformen"
Claus Leggewie: Also, man kann natürlich nicht auf die Straße gehen und fragen: Fühlen Sie sich jetzt entfremdet? Wollen Sie in einem Zukunftsrat mitmachen? Aber was man tun kann, ist, eine bestimmte Auswahl der Beteiligungsformate zu vermeiden, die wir jetzt haben. Es gibt nämlich grob gesprochen zwei Beteiligungsformen. Die einen sind sogenannte Stakeholder, wir reden ja alle Englisch in diesen Zusammenhängen, also Leute, die in irgendeiner Weise ein Interesse haben. Das war bei Stuttgart 21 so. Die einen wollten Bahnhof bauen. Die anderen wollten ihn nicht. Das sind dann die Stakeholder.
Dann gibt es andere Beteiligungsformate, die im Grunde genommen auf so was wie Lobbyismus rauslaufen. Das heißt: Expertokratie. Und dann wird gesagt, ja gut, wir gucken jetzt mal, Gesundheitswesen zum Beispiel. – Worüber wir reden, ist: Zukunftsrat ist nicht aus Experten zusammengesetzt. Die Experten sind die Bürgerinnen und Bürger, die ihren Sachverstand einbringen, genau wie das Schöffen tun. Die repräsentieren so grob den Querschnitt durch die Bevölkerung. Das heißt, wir haben die, die sofort aufzeigen und sagen, mach ich mit, das ist auch gut. Aber wir haben auch die, die beispielsweise sonst nicht so viel Zeit haben. Die kriegen eine Aufwandsentschädigung und haben dann Zeit. Leute, die nicht so gebildet sind, Leute, die nicht so ein hohes Einkommen haben, also, diese sozialen Verzerrungen in den üblichen Beteiligungsprozessen werden durch die Tombola, durch die Zufallsauswahl und eine entsprechend Nachkorrektur behoben. Und wir streben an einen möglichst repräsentativen Querschnitt durch die Bevölkerung.
Deutschlandradio Kultur: Wer ausgelost wird, soll ja trotzdem noch gefragt werden. Das Ganze ist ja keine Verpflichtung.
Claus Leggewie: Natürlich, Sie müssen sich das so vorstellen: Wir schreiben aus dem Melderegister einer Stadt 10.000 Leute an und fragen die: Wollt ihr mitmachen? Dann sagen 9500: Vielen Dank, hab ich keine Lust, keine Zeit, was seid ihr überhaupt für Idioten. Aber 500 machen mit.
Deutschlandradio Kultur: Ja, aber unter diesen 500 werden wohl kaum die sein, die sich so entfremdet fühlen, dass sie sagen: Das Parlament, die Politiker, die haben uns doch alle längst verraten.
Claus Leggewie: Woher wissen Sie das?
Deutschlandradio Kultur: Täusche ich mich da so sehr?
Claus Leggewie: Mein Kollege Franz Walter, der sich viel mit Demokratie beschäftigt, hat ein Buch geschrieben über die Bürgergesellschaft. Der berühmte Hartz-IV-Empfänger wird doch immer genannt. Der Hartz-IV-Empfänger ist frustriert, der interessiert sich nicht für Politik. – Was für ein Vorurteil! Es gibt natürlich in Bürgerbeteiligungsprozessen auch Leute, die weniger Einkommen haben, Leute, die arbeitslos sind, Leute, die Probleme haben.
Deutschlandradio Kultur: Das haben Sie mir jetzt aber unterstellt. Ich habe auch nicht von Hartz-IV-Empfängern gesprochen. Ich rede von denen, die auf die Straße gehen und laut schreien, dass Politiker Volksverräter seien.
Claus Leggewie: Ja, die brauche ich nicht.
Deutschlandradio Kultur: Die klinken Sie ganz bewusst aus?
"Die AfD ist eine Partei, die völlig vernagelt ist"
Claus Leggewie: Ja. Ich habe, wenn Sie jetzt, was Gott verhüten möge, Herr Gauland wären oder Frau Petry, ich hätte keinerlei Problem, mit Ihnen hier über die Demokratie zu streiten. Aber ich habe kein besonderes Bedürfnis, mit Leuten die Zukunft unserer Gesellschaft zu planen, die ihr keine geben, die Deutschland sowieso dem Untergang geweiht sehen, die überhaupt keine Vorstellung haben, die auch keine Vorstellung über Ihre Kinder und Kindeskinder haben, wie das weitergehen soll, die die Welt draußen halten. Die AfD ist eine Partei, die völlig vernagelt ist, die nicht nach links und rechts schaut und sagt: Liebes Deutschland, lass uns unter uns unter uns bleiben und lass und sie Welt und die Zukunft, die böse, draußen halten. Und das Abendland wird überleben.
Gerade hier in Dresden und in Leipzig, wo Pegida und Legida aktiv sind, da sind 90 Prozent von denen überhaupt nicht in irgendeiner Kirche. Ich habe keine Ahnung, worüber die eigentlich reden, wenn die von Abendland sprechen.
Ich will also sagen: Ich schließe niemanden aus von einem politischen Diskurs. Die haben erstens Meinungsfreiheit und zweitens haben sie auch Partizipationsfreiheit. Und wenn sie es so machen wie im Moment, es ist ihr gutes Recht. Aber ich bin jetzt nicht angewiesen auf jemanden in einem Zukunftsrat, der von morgens bis abends ruft: Volksverräter!
Deutschlandradio Kultur: Das heißt aber, wenn wir darüber gesprochen haben, ob sich mit Ihrem Konzept der Konsultative der Populismus vielleicht einfangen lassen würde, dann geben Sie diese 24 Prozent in Sachsen verloren?
"Die 24 Prozent werden über kurz oder lang auf fünf oder acht schrumpfen"
Claus Leggewie: Überhaupt nicht. Also, die 24 Prozent werden über kurz oder lang auf fünf oder acht schrumpfen, weil die Leute merken werden, was sie da für Leute gewählt haben. Ich meine, die Bilanz der AfD in Sachsen ist ein Jammer – Gott sei Dank. Also, was die auf die Beine bringen, was die politisch machen, ist null. Und das wird noch viel schlimmer, wenn sich das auf Bundesebene oder sonst was ausdehnt. Also mit anderen Worten, es sind nicht 24 Prozent. Ich kämpfe um die, die jetzt im Moment aus Frust, aus Protest gesagt haben, okay, jetzt wähle ich die halt mal. Das war übrigens bei den Grünen am Anfang auch so. Die Grünen wurden gewählt aus Protestgründen, oder weil man Ökologe war hat man das getan.
Und ich würde niemals den Kampf um diese Leute aufgeben, aber der Kampf ist erstmal ein indirekter. Wir dürfen uns von der AfD, von Pegida nicht unsere Erzählung, wie die Demokratie weitergeht, vorschreiben lassen. Und damit das nicht passiert, müssen wir selber eine Geschichte erzählen über die Demokratie, über Europa, über die Energiewende usw. Und das wird mehr Leute beeindrucken als auf der anderen Seite.
Deutschlandradio Kultur: Ich habe Sie ganz zu Beginn nach der demokratischen Betriebstemperatur gefragt, die Sie momentan messen. Und Sie haben gesagt, leicht populistisch erhöht. – Auf was steuern wir zu in einem Jahr? Was hoffen Sie, in einem Jahr messen zu können?
"Politikwissenschaftler sind keine Propheten"
Claus Leggewie: Ja, Politikwissenschaftler sind keine Propheten. Ich würde sagen, die Chancen, AfD wieder abzukühlen oder unsere Befangenheit damit abzukühlen – wir sind ja geradezu wie das Kaninchen vor der Schlange, unsere Befangenheit damit wird sich abkühlen. Die Chancen stehen gut aufgrund der zu vermutenden Selbstdemontage dieser politischen Figuren. Die Chancen stehen aber auch für die besser, weil die Entfremdung in den letzten Jahren zugenommen hat. Das ist ein bisschen was anderes als 1990 mit Herrn Schönhuber und den Republikanern. Insofern müssen wir mehr kämpfen. Wir müssen mehr machen heute, um diese Auseinandersetzungen, die wir natürlich immer friedlich führen werden, zu gewinnen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Leggewie, haben sie vielen Dank für das Gespräch.
Claus Leggewie: Ich danke Ihnen.
Deutschlandradio Kultur: Claus Leggewie hat gemeinsam mit Patrizia Nanz das Buch geschrieben: "Die Konsultative. Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung". Es umfasst gut 100 Seiten und liest sich wirklich in einem Rutsch durch. Erschienen ist es bei Wagenbach und kostet 9,90 Euro. Vielen Dank Ihnen allen, ob Sie uns hier auf der Leipziger Buchmesse besuchen oder per Radio oder Podcast zuhören. Mein Name ist Christian Rabhansl, Tschüss und bis bald.